Guardini akut | Gedichte

Guardini akut | KW 1 bis 4/2022

Gedichte

Von Christoph Wilhelm Aigner

Faust

Als ich mehr wusste und weniger
Sprache hatte als ein Zeisig im Herbst

(bis gestern scheints aber lang ists her
denn mit den Wörtern kommt Vergessen)

waren die Donner platzende Wolkensäcke
und das Grollen der Atem beim Aufblasen der Wolken

Gern würd ich wieder wissen dürfen
dass die Welt eine offene Hand

und was man glauben muss an Fingern abzuzählen ist
es gut sei überall außer wenn die Hand sich schließt

Winterleuchten

Im Wasserlinsenteich
ein Spiegelkind der Sonne
Die Mandarinenschale

Schulwissen

Einmal wirst du doch gefragt
und stehst wie vor der Klasse wieder
Panik flitzt in deinem Kopf
und radiert und radiert

Was war das Glücklichste in deinem Leben

Ein fruchtgelb satter Tag im Gras
Licht und Sehnsucht zu einem Buch
gebunden und an einem Hauch
von Fäden glitten Ameisenherzen
durch Ahorn und Kastanienenkronen

Bloß gilts nicht. Setzen. Nichtgenügend
Der Schock dass dir nichts einfällt zieht
dich über Tisch und Bank und weiter
durch alle Schulen und zurück

Heimsein

Verschwommen
Land in Sicht

Schaukle schwer in der Dünung
mit Träumen vollgesogen

ein Stück Stamm von weither
durchs Wasser gerollt

Lehrerin

Das war wenn sie den Raum verließ
als würden wir von einer Insel
weggezogen. Planeten und der Satz
Die Erde ist das Äußere der Seele

Ferientage mit Lupenlicht
Vergrößert ein Bussard hoch und nahe
auf der Leitung Star und Ammer
und die Sonne überschmiert

mit feuchter quergelegter Kreide
von übermütigen Jungs an der Tafel
die gelbe Scheibe der Lehrerin

Ein Nagel war ihr abgebrochen
und einer hebt den roten Mond
gibt ihn sein Leben nicht mehr her

Wie

Der Kleiberruf klingt wie
die Wiederholung eines Wie

hell wie die Kegel
der Kastanie im Licht
und wie die Sehnsucht
ohne Wissen

Ein reineres Wie
hab ich nie gehört

Mährisch Goldgrün

Meister Mikulášek zieht
kleines Treibgut aus dem Fluss
(das Wasser strömt als wär
in ihm auch Hrabals sämtliches
Bier aus dem „Goldenen Tiger“)
und setzt uns eine blühende Allee

Wer nimmt Herrn Skácel die Smútenka ab
und wendet für ihn das heiße Heu der Sterne
dass es sich nicht entzünde, aber händisch,
locker, so mit der Gabel, damit
die Heupferdchen immer noch abspringen können

Ich fürchte es ist zu spät oder zu früh
Auf dem Schreibtisch ist Gras gewachsen
Keine Wegwarte kein Wiesenknopf
Nur der Abdruck meiner Katze
die sich durchs offene Fenster den Wolken
angeschlossen hat. Sehen
lernen muss ich täglich neu

Fünf Laute

Das Wort Stille
bricht die Stille

Musik unter Dach

Die Spatzen überm Fenster
auf den Streben
unterm Dachrand

Was schreien die mit Kraft
um vier Uhr morgens da
die Tierliebe verschlafen liegt

ausgeschlossen
aus dem aufständischen
Willen des Frühjahrs

Wie die ihre Stimmen erheben
als wären ihnen die Sterne
Noten für einen Kanon

Geburtstag

Ferdinand heute acht
dreht sich um am Fenster
Über den fernen Bergen
waagrechte Blitze

Was machst du da allein
Er hat die Faust unterm Kinn

Sie werden noch auf dein
Begräbnis eifersüchtig sein
und wütend Blumen werfen
sagt er

Wen meinst du
Er meine sich

Er müsse sich zurückziehn jetzt
er spüre eine leichte Migräne
Das komme von der Schlaflosigkeit
an der er leide seit er nun
fast alles lesen und schreiben kann

Die Versuchung des Schreibers

Schreib auf was du siehst

Heftiger hämmernder Regen
Aus der Dachrinne hechtet das Wasser
ins Tal samt den frischen nackten
Spatzen. Sirren Fallen Klirren Klatschen

Der schmale Weg
unter der Fernsicht gerät
ins Fließen mit Ameisen Nachtfaltern Käfern
Echsen alles was klein ist und nicht schreit
was man nicht vergehen sehen hören will

Spinne Elster Gras Hund Apfel

Ich gehe hin und her
setz ich mich halbwegs hin
steh ich schon wieder auf

Neue Spinnenfäden am Fenster
Lass sie. Elstern warten auf
den Ästen in der glänzenden Luft

Mir fehlt ich weiß nicht was
War alles nur geliehen

Im Garten das geschnittene Gras
querkreuz in Garben mit Glasur

Und wie der kleine Hund
am Bauch des alten schlief
rührt tiefer als ich denke

Wie wenn du etwas essen willst
Und nur ein Apfel ist noch da
So hungern an Erinnerung

Grafikdesign Anja Matzker


Der österreichische Autor und Übersetzer Christoph Wilhelm Aigner studierte in Salzburg Germanistik, Kommunikationswissenschaft und Sportwissenschaft. Später arbeitete er als Journalist und Redakteur. Seit 1985 ist er freier Schriftsteller und lebt heute Salzburg. World Literature Today zählt ihn zu den wichtigsten zeitgenössischen Dichtern. Er erhielt zuletzt den Anton-Wildgans-Preis, das Heinrich-Heine-Stipendium und den Großen Österreichischen Staatspreis für Literatur.

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