Guardini akut | Ein Menschen-Kind

Guardini akut | 24.12.2021

Ein Menschen-Kind

Von Romano Guardini

Was wir soeben noch in der Verborgenheit des göttlichen Tuns zu erfassen suchten, tritt uns nun in sichtbarer Gestalt entgegen. Da ist ein Kind, wie Menschenkinder sonst; weint und hungert und schläft wie alle, und ist doch das „Wort, das Fleisch geworden“ (Joh 1,14). Gott wohnt nicht nur in Ihm, und sei es auch in der Fülle; es ist nicht nur vom Himmlischen her angerührt, so dass es ihm nachgehen müsste, darum ringen, dafür leiden, und sei es auch in der gewaltigsten, alle Gottesberührtheit übersteigenden Weise, sondern dieses Kind ist Gott, von Sein und Wesen.

Wenn sich hier ein innerer Einspruch meldet, so wollen wir ihm Raum geben. Es ist nicht gut, wenn man bei diesen tiefen Dingen etwas niederdrückt; dann vergiftet es sich und setzt sich irgendwo sonst zerstörend durch. Vielleicht empfindet jemand einen Widerstand gegen den Gedanken der Menschwerdung. Vielleicht ist er bereit, ihn als liebliches, tiefsinniges Gleichnis zu nehmen, nicht aber als wörtliche Wahrheit. Wenn irgendwo im Reich des Glaubens, dann kann tatsächlich hier der Zweifel einsetzen. In diesem Falle wollen wir ehrfürchtig sein und Geduld haben. Wir wollen dieses Herzensgeheimnis des Christentums mit ruhiger, wartender, bittender Aufmerksamkeit umgeben, dann wird uns schon einmal der Sinn aufgeschlossen werden. Als Weisung aber mag uns das Wort dienen: „Die Liebe tut solche Dinge.“

Diesem Kinde war nun der Inhalt seines Daseins gegeben. Was ein Mensch durch seine Geburt ist, setzt ihm das Thema seines Lebens; alles andere kommt erst nachher hinzu. Umgebung und äußeres Geschehen üben Einfluss, tragen und lasten, fördern und zerstören, wirken und formen – das Entscheidende bleibt doch der erste Schritt ins Sein; das, was Einer von Geburt her ist. Schon viel haben christliche Denker sich darum gemüht zu erfassen, was in Jesus vorgegangen sei. Sie haben nach seinem inneren Leben gefragt, und bald aus der Psychologie, bald aus der Theologie eine Antwort zu geben versucht. Aber eine Psychologie Jesu gibt es nicht; sie scheitert an dem, was Er im letzten ist. Sie hat nur Sinn als ein Fragen vom Rande her, und bald werden Begriff und Bild von der Mitte verschlungen. Was aber die theologische Bestimmung angeht, so ist sie – in sich wahr und für das christliche Denken grundlegend – ihrem Wesen nach abstrakt. So sucht der Glaube nach einem Hilfsgedanken, der weiterführt. Versuchen wir es mit dem folgenden.

Ein Menschen-Kind war dieses junge Wesen: Menschenhirn und Glieder und Herz und Seele. Und war Gott. Inhalt seines Lebens sollte der Wille des Vaters sein: die heilige Botschaft zu verkünden, die Menschen durch Gottes Macht zu erfassen, den Bund zu stiften, die Welt und ihre Sünde auf sich zu nehmen, sie in stellvertretender Liebe durchzuleiden, sie in den Untergang des Opfers und in die Auferstehung zum neuen Dasein der Gnade zu ziehen. Ebendarin sollte aber auch sein eigener Selbstvollzug geschehen. Indem Er seinen Auftrag erfüllte, sollte Er sich selbst erfüllen, wie das Wort des Auferstandenen sagt: „Musste nicht Christus das alles leiden und so in seine Herrlichkeit eingehen?“ (Lk 24,26) Dieser Selbstvollzug bedeutete im letzten, dass dieses Menschenwesen das Ihm personhaft geeinte Gotteswesen gleichsam in Besitz nahm. Jesus hat Gott nicht nur „erlebt“, sondern war Gott. Er ist Gott nicht nur irgendwann geworden, sondern war es von Anfang an. Aber sein Leben bestand darin, dieses sein eigenes Gott-Sein menschlich zu vollziehen: die göttliche Wirklichkeit und ihren Sinn in sein menschliches Bewusstsein zu heben; die Gotteskraft in seinen Willen zu nehmen; die heilige Reinheit mit seiner Gesinnung zu vollbringen; die ewige Liebe mit seinem Herzen zu tun; die unendliche Gottesfülle in seine Menschengestalt zu holen – oder wie wir das ausdrücken mögen, dass sein Leben ein beständiges Niederdringen war in sich selbst hinab, ein Sich-Ausbreiten in sich selbst hinaus, ein Sich-Erheben in immer höhere, eigene Höhe, ein Durchmächtigen des eigenen Sinnes, ein Ergreifen der eigenen Fülle. Alles nach außen dringende Sprechen, alles Tun und Kämpfen bedeutete zugleich dieses beständige Vordringen in sich selbst, des Menschen Jesus in sein eigenes Gottsein. Sicher ist der Gedanke unzulänglich. Er soll ja auch gar nicht richtig sein im Sinne eines theoretischen Satzes, sondern einer wirksamen Hilfe. Helfen aber kann er, wenn wir an das Kind in der Krippe denken … an diese Stirne, und was hinter der lebt … an diesen Blick … an dieses ganze zarte, beginnende Dasein.

Aus: Romano Guardini, Der Herr, Mainz 1997, S. 16ff.

Grafikdesign Anja Matzker

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