Guardini akut | Die kleine Wahrheit

Guardini akut | KW 3 bis 4/2022

Die kleine Wahrheit

Von Albrecht Stoye

Meine Schwägerin ist eine seltsame Frau. Obwohl uns viel verbindet, haben wir fast nichts gemeinsam. Beim schweigsamen Kloßessen am zweiten Weihnachtsfeiertag gelang es, sie in ein Gespräch zu locken:
Ob es denn nach den Schneefällen eine schöne Idee sei, einen Ausflug zum nahegelegenen Schlosspark zu unternehmen, unterhalb dieser Felsen?
Nun, die Konstellation … Basalte … Vulkanismus … Rückgang globaler Energie. Und das habe erhebliche Konsequenzen; sie wolle sich dem keinesfalls aussetzen. Kein Schlosspark für sie.

Sie stellte das so überzeugt und sachlich fest, dass meine Irritation mir selbst beinahe hysterisch erschien. Wie konnte man an eine mystische Energie glauben, die durch Basalt-Konstellationen bestimmt werde? Noch während des Nachtischs ging mir infolge pikierender Nachfragen auf, dass es sich weniger um einen Glauben, als um eine feste Überzeugung handelte: Meine Schwägerin nahm den Rückgang einer globalen Basalt-Energie als Fakt. Für sie war es eine Grundlage vernünftigen Handelns. Mehr noch: Sie sprach von Forschungen und Koryphäen und Untersuchungen, die belegten, dass … Meiner Schwägerin überforderter Schwager nahm die Definition aus dem Philosophie-Grundkurs zu Hilfe – Wissen ist wahre, gerechtfertigte Meinung – und kam auch nicht weiter. Ich musste ihr zustimmen: Sie wusste, dass es sich mit der Basalt-Energie so verhielt. Und ich wusste, dass es esoterischer Unsinn war.

Meine Schwägerin war bereit, ihre Position in Begründungen zu ersticken. Ich hätte schon makellose Wahrheit gebraucht, um sie an dieser Festtafel zu widerlegen. Frustriert begann ich, nach Rechtfertigungen für meine Position zu kramen. So kläglich meine Bemühungen an diesem übersatten Nachmittag, so bescheiden auch ihre Überzeugungskraft. Was hatte ich schon je in Physik und Geologie selbst in Erfahrung gebracht? Letztlich blieb nur das unklare, aber heftige Gefühl, dass es keine globale Basalt-Energie gebe. Das weiß man doch! Viele vertraten die gleiche Position, darunter auch Professoren. Doch das beruhigte nur wenig: Deren Fachartikel (ich begann zu recherchieren) verstand ich kaum – die Einwände meiner Schwägerin hingegen klangen sehr zugänglich.
So saß ich also im Wohnzimmer meiner Eltern mit einer Reihe von Gefühlen zur Begründung meines Weltbilds und einer Reihe – aus der Sicht meiner Schwägerin bestenfalls alternativer – Fakten.
Ihren verworrenen Meinungen durfte ich nicht den Platz der tatsächlichen Fakten überlassen. Es ging nicht um Wertungen, ob wir einen Umstand gut oder schlimm finden und darüber diskutieren sollten. Es ging um die Grundlage – die Feststellung des Umstands selbst. Wenn sich keine Auskünfte von einer großen, objektiven Wahrheit per Kurzwahl, Orakel oder Schlüsselexperiment bekommen ließen – wie konnte ich dann prüfen, ob meine Gefühle und Folgerungen eine gute Handlungsgrundlage waren? Wie findet ein Mensch unter zwei denkbaren Fakten eine nicht ultimative, aber vertretbare, kleine Wahrheit?

In einer simplen logisch-mathematischen Welt wären Axiome und Schlussregeln bekannt, meine Schwägerin und ich hätten eine Liste aller relevanter Wahrnehmungen und könnten alles herleiten, was gilt. Statt uns über die Verbohrtheit unserer seltsamen Auffassungen zu wundern, verglichen wir gemeinsam Kalkulationen, wer von uns wohl einen Fehler gemacht habe.
Die Realität (und die menschlichen Rechenfähigkeiten) könnte nicht weiter von dieser Vorstellung entfernt sein. Ließe sich nicht feststellen, ob ich den falschen Dingen vertraute, dann müsste ich fürchten, dass mein Überzeugungskonstrukt durch eine neue Beobachtung oder Erfahrung einfach zusammenfiele. Am späten Abend des 27.12. fürchtete ich schon, Gewissheit für Gewissheit aus meinem Weltbild pulen zu müssen – Sinne täuschen, Gefühle ändern sich, abstrakte Überlegungen gehen in die Irre. Während draußen der angetaute Schnee wieder festfror, sah ich mich auch schon allein mit Descartes‘ genius malignus für alle Zeit in einer traurigen Sphäre der Unwissenheit sitzen.
Nach ungewissem Schlaf in einem ungewissen Bett erreichte mich endlich ein tröstlicher Gedanke: Die meisten kleinen Wahrheiten verwandeln Phänomene in Fakten, indem sie erklären. Eine ganze Reihe von Fakten blieben ja sogar zwischen mir und meiner Schwägerin unstrittig: Erst durch das Kochen werden Kartoffeln genießbardie Sonne geht im Osten auf und unzähliges dieser Art mehr. Es genügte vielleicht schon, schwierige Fälle mit Faustregeln entscheiden zu können. Entweder die strittigen, aber emphatisch vertretenen Auffassungen waren gegen ihre Konkurrenz zu verteidigen, oder ich musste einsehen, einer schlechten Überzeugung zu folgen.

Ein guter Regelkandidat ist das bekannteste Rasiermesser der Geistesgeschichte: William von Ockham plädierte im Hochmittelalter dafür, bei ähnlich guten Erklärungen die einfachere zu bevorzugen. Ich rasiere also unnötige Zusatzannahmen, lange Argumentationsketten und Ufo-Verschwörungen zur Erklärung eines Wetterleuchtens einfach ab. Mehr noch: Gibt es schon gute Wahrheiten in einem Bereich, die als erklärendes Prinzip auch in einem anderen Gebiet funktionieren? Das wäre ein Grund, sie dort zu übernehmen. Mit dieser Machete komme ich im Hypothesendschungel schon viel weiter.
Doch Achtung: Manch verblüffend einfaches und dramatisch falsches Erklärungsmuster hat Wahrheiten auch verstümmelt. Wie erkenne ich, dass Meinungen und elegante Begründungsmuster, denen ich vertrauen möchte, eine geschlossene Ideologie bilden – die mich mit falscher Welterklärung nur auf ihre Seite verführt?
Es gibt Warnsignale. Werden etwa die Erklärungen zu pauschal und simpel, dann fehlt der Raum, in diesem Meinungsgebäude Details unterzubringen. Führen diese Erklärungen zu Feindseligkeit und Hass? Beziehen sie ihre Begründung aus meinen Ängsten? Setzen sie gar bei Anderen pauschal Lüge und Niedertracht voraus? Dann sind die gehegten Wahrheiten einer besonders peinlichen Befragung zu unterziehen. Angst setzt andere Impulse leicht außer Kraft. Sie ist eine große Zerstörerin und gibt schlechten Rat. Und bei Mitmenschen vor allem Bosheit als Motiv anzunehmen, das widerspricht dem Bild, das Menschen von sich selbst hegen: Ich handle gut, oder mit guten Gründen, oder habe wenigstens eine Rechtfertigung.
Hier kommt ein zweites Rasiermesser ins Spiel: Was durch Unfähigkeit zu erklären ist, sollte nicht leichtfertig Bosheit zugeschrieben werden. Zwar handelt es sich bei Hanlon’s Razor eher um ein schartiges Klapptaschenmesser, im rechten Augenblick zieht man aber auch damit die richtige Schraube wieder fest.

Nun hatte ich schon mehrere dunkle Dezembertage lang die Frage von globaler Basalt-Energie gewälzt und meine Überzeugungen befragt. Ich hatte beleuchtet, woher die Empfindungen stammten, die gegen die Existenz geheimer vulkanischer Konstellationen sprachen. Eines aber hatte ich bisher vermieden: mich korrigieren zu lassen und bessere Überzeugung anzunehmen. Mehr noch – waren diejenigen, deren Expertise mich führte, bereit, auch ihre kleinen Wahrheiten im Lichte aller Indizien zu diskutieren? Waren sie bereit, ihre Fehlbarkeit einzusehen – und war ich es selbst?
In Bereichen, an denen mir nicht viel liegt, fällt mir das leicht. Wo aber ein Fakt von einem starken Gefühl gestützt wird, dort widerstrebt es mir, von meinem Verständnis abzurücken. Gerade hier kommt es darauf an: Speist sich die starke Emotion aus dem Gehalt oder der Tragweite dieser Überzeugung, so kann es gut begründet sein, daran festzuhalten.
Bemerke ich aber, dass die Empfindungen meinen eigenen Nöten und Bedürfnissen entspringen und sich die Meinung nur als dazu passender Umstand anbietet, dann muss ich Vorsicht walten lassen. Dass ich eine Emotion empfinde, ist ein Fakt, den ich direkt wahrnehmen kann. Ich darf aber nicht annehmen, dass dem Gehalt jeder Emotion eine bestimmte Wahrheit entspricht, die ich vielleicht nur noch nicht erkannt habe.

Diese Prüfungen waren entscheidend dafür, schließlich mit wohlüberlegten kleinen Wahrheiten das neue Jahr zu beginnen. Nach einer Woche voller Zweifel stellte sich am Neujahrstag ein Gefühl der Freiheit und Klarheit ein. Ich hatte nun wieder meine bestmögliche Handlungsgrundlage gesichert. Und nun hatte ich sogar etwas mit meiner Schwägerin gemeinsam – die kleine Wahrheit der globalen Basalt-Energie. Vielleicht fällt ihr aber bis zum nächsten Weihnachtsfest sogar noch etwas Besseres ein.

Grafikdesign Anja Matzker


Albrecht Stoye studierte Philosophie, Linguistik und Informatik in Berlin und Chemnitz, wo er gegenwärtig auch lebt.

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