Guardini akut | KW 8/2021
„Die Dinge singen hör ich so gern“
Vielleicht verstehen wir die Dinge besser, wenn wir aufhören, uns ihrer zu bemächtigen, sondern zu ihnen in Beziehung treten.
Von Cornelia Kulawik
„Die Dinge singen hör ich so gern.“ So die Worte von Rainer Maria Rilke. Er ist mir über viele Jahre hinweg ein wichtiger Wegbegleiter. Vor allem in Trauersituationen empfinde ich seine Worte in ihrer Tiefgründigkeit immer wieder als Hilfe und Trost. Nun begegnete er mir neu beim Soziologen Hartmut Rosa.
Rosa spricht von einer Welthaltung, mit der wir uns alles verfügbar machen wollen. Die Dinge, so schreibt er, begegnen uns als etwas zu Wissendes, zu Bezahlendes, zu Beherrschendes, zu Erwerbendes, zu Erledigendes. Dieses Weltverhältnis bestimme alle Dimensionen unseres Daseins bis hin in die begriffliche Verfügung über die Welt. Mit Theodor Adorno nennt er dies das „identifizierende Denken“, womit die Vorstellung verbunden sei, man habe eine Sache – ein Ding, ein Ereignis, einen Prozess – ihrem Wesen nach erfasst und damit geistig verfügbar gemacht, wenn man sie auf den Begriff gebracht hat.
Den verdinglichenden, geradezu tötenden sprachlichen und geistigen Zugriff auf die Welt bringt Rainer Maria Rilke in die Worte:
Ich fürchte mich so sehr vor der Menschen Wort.
Sie sprechen alles so deutlich aus:
Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus,
Und hier ist Beginn und das Ende ist dort.
Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott,
sie wissen alles, was wird und war;
kein Berg ist ihnen mehr wunderbar;
ihr Garten und Gut grenzt grade an Gott.
Ich will immer warnen und wehren: Bleibt fern.
Die Dinge singen hör ich so gern.
Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm.
Ihr bringt mir alle die Dinge um.
Erledigen, besorgen, wegschaffen, meistern, lösen, absolvieren. Mit dieser Lebenshaltung verstumme die Welt, sie rührt uns nicht mehr an, es kann keine Resonanz entstehen. Rosa geht es um eine Welthaltung, in der etwas miteinander in Schwingung gerät. Resonanz, so betont er immer wieder, sei kein Gefühlszustand, sondern ein Beziehungsmodus, eine Antwortbeziehung, bei der beide Seiten mit eigener Stimme sprechen. „Die Dinge singen hör ich so gern.“ Dort, wo alles verfügbar ist, hat uns die Welt nichts mehr zu sagen.
Die letzten Monate hindurch haben mich Gesangbuchlieder begleitet. Einige von ihnen versuchte ich auswendig zu lernen, weil ich dabei immer wieder neu den Worten nachgehen konnte, die allzuoft erst fremd erscheinen, weil sie aus einer völlig anderen Zeit zu uns sprechen. Doch im immer erneuten Singen und Memorieren dieser Worte haben sie sich anders erschlossen.
Das identifizierende Denken beraube uns der Möglichkeit, mit einer begegnenden Sache als mit einem unverfügbaren Gegenüber, auf das und zu dem wir erst einmal hinhören müssten, bevor wir antworten können, in Beziehung zu treten. So Rosa.
Er weckt mich alle Morgen, er weckt mir selbst das Ohr.
Gott hält sich nicht verborgen, führt mir den Tag empor,
dass ich mit Seinem Worte begrüß das neue Licht.
Schon an der Dämmrung Pforte ist er mir nah und spricht.
Das Morgenlied von Jochen Klepper (Evangelisches Gesangbuch, 452) gewann mit all den Überlegungen von Rosa zu Resonanz, Unverfügbarkeit und dem Verstummen der Welt eine neue Tiefe für mich. Und mit vielen anderen Liedern ging es mir ebenso.
Eine Idee möchte ich mit Ihnen teilen: Vielleicht bewährt sie sich nicht, aber ich würde es gern auf einen Versuch ankommen lassen: Für viele von uns werden es noch weiterhin schwere Monate werden. Auf so vieles müssen wir nach wie vor verzichten. Wir vermissen unsere Lieben, die wir nicht so einfach besuchen können; wir können auch nicht von ihnen besucht werden. Wir vermissen gemeinsame Feste, Konzerte, Veranstaltungen und so vieles mehr. Und in den Gottesdiensten vermissen wir das gemeinsame Singen. Wie wäre es, wenn wir diese Monate zusammen nutzen und Woche um Woche ein Gesangbuchlied gemeinsam auswendig lernen? Denn meine Erfahrung ist, dass dies kein stupider Prozess ist, sondern dabei Worte sich neu und tiefer erschließen. Memorieren ist wie Meditieren von Worten, die andere Menschen für uns – aus ihrer Glaubenserfahrungen heraus – formuliert haben. Manche dieser Worte werden uns fremd sein und vielleicht auch fremd bleiben. Aber andere Worte werden in uns vielleicht Resonanz erzeugen. Lieder auswendig zu lernen ist nicht nur ein gutes Gedächtnistraining, sondern die Worte werden zu einem Schatz, der uns zur Verfügung steht, wenn uns selbst eigene Worte fehlen.
Cornelia Kulawik ist seit 2015 Pfarrerin in der Evangelischen Kirchengemeinde Berlin-Dahlem. Zuvor war sie als City-Kirchen-Pfarrerin an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche tätig. Sie promovierte an der Humboldt-Universität und ist nach Lehraufträgen dort und an der Evangelischen Hochschule Berlin seit 2014 Dozentin der Universität der Künste. Hier ist sie für die theologische Ausbildung der evangelischen Kirchenmusiker*innen verantwortlich.