Guardini akut | Was ist systemrelevant?

Guardini akut | KW 7/2021

Was ist systemrelevant?

Bei allen pandemischen Einschränkungen bleibt etwas haften, das tiefer zu bedenken ist: der erzwungene Ausfall der christlichen Liturgie und die kirchliche Reaktion darauf.
Von Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz

Was den Gewaltsystemen des 20. Jahrhunderts, ob rot oder braun, nicht gelang, gelang mühelos durch einen Verwaltungsakt: das Verbot von Gottesdiensten. Und zwar für den Kern des Christentums, die gemeinsame Feier von Tod und Auferstehung Christi. Vollständig für die Dauer von insgesamt acht Wochen. Danach mit erheblichen Einschränkungen bis heute, bis in liturgisches Sprechen und Antworten, Handeln und Vollziehen hinein.
[…] Der Ausfall öffentlicher Liturgien zeitigte […] eine […] Erkenntnis. Anstelle des „Außenraumes“ öffnete sich der Raum christlicher Innerlichkeit: die „Kammer“ des persönlichen Gebets (Mt 6,6) – aber auch der Herzraum der Kapellen, Kirchen und Dome, in denen vom Altar aus ein einzelner Priester die Messe feierte, sich selbst antwortete, mit einem anderen über Meter hinweg nur durch Blick und Wort verbunden war. Und dann stellvertretend das gewandelte Brot, den gewandelten Wein für alle aß und trank, und dabei wurden alte und neue Gebete der geistlichen Kommunion vorgetragen, die auch mit neuem Ohr gehört wurden. Anstelle des weithin gedankenlosen Konsums entstand dadurch eine Spannung der Sehnsucht, ein Empfinden des Ungesättigtseins. Das allein bedeutete schon eine Reinigung der Abstumpfung: Reinigung durch Entbehrung.
Trotzdem: Der Ausfall öffentlicher Gottesdienste und der Kommunionspendung sollte sich in dieser Weise nicht wiederholen; darauf ist in Berufung auf die staatliche Garantie freier Religionsausübung zu dringen.
Ebensowenig dürfen Priester in Altenheimen und Krankenhäusern an ihrem Dienst gehindert werden. Nämlich an jenen Kranken und Sterbenden, die dringend nach den Sakramenten verlangen. Der innerste Auftrag der Kirche, Christus zu den Hungernden und Dürstenden zu bringen, muss verteidigt werden. Liturgie ist keine Spielwiese der Politik. Ein Ostberliner Bekannter schrieb: „Ob ‚wir‘ Katholiken nicht etwas von der kraftvollen Widerborstigkeit verloren haben, die – ich spreche von meinen Erfahrungen – in der DDR-Zeit durchaus lebendig war?“

Das Kriterium, unter dem die Kirche verstummte, lautete: „systemrelevant“. System bedeutet damit klarerweise etwas, worin Christentum oder Religion vollständig entbehrlich sind. Die Eilfertigkeit der Kirche(n), womit der Ausschluss hingenommen wurde, spricht ihre eigene erstaunliche Sprache. Das trauervolle Erstaunen hielt an, denn die Austeilung der Kommunion wurde von mutlosen? einfallslosen? Klerikern auch nach der Lockerung der Vorschriften nicht vorgesehen, von einem deutschen Bischof sogar bis Pfingsten 2020 verboten.
Welcher Art Theologie entspricht eine solche freiwillige Verabschiedung von der Eucharistie? Unvorstellbare Frage. „Dein Verderben, Israel, ist aus dir selbst.“ (Hos 13,9)

Nun aber zur Zukunft. Was sollen wir tun? Ein neues Wissen von der Gegenwart des Herrn einleiten. Kurz: Anbetung halten und Eucharistie feiern. Die Speise der Unsterblichkeit essen. Gerade in Zeiten der Todesangst.
Die mythische Überlieferung zeigt in vielen Religionen ein Essen, das gottnah macht, so das Essen des Pflanzen- oder Tier-Opfers vom Altar. Dass aber die Gottheit sich selbst unmittelbar zu essen gibt, gehört nicht zum gewöhnlichen Material der Religionsgeschichte.
Aber im Christentum findet ein doppelter Sprung statt: Die Speise der Eucharistie macht unsterblich und: Gott gibt sich selbst zu essen. „Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, der hat das ewige Leben.“ (Joh 13,54) Bei der verbotenen Frucht im Paradies hieß es umgekehrt: „Wenn ihr davon esst, werdet ihr sterben.“ (Gen 1,17) Eucharistie aber ist die Rückkehr ins Paradies zum Baum des Lebens.
Ewiges Leben ist Genuss des göttlichen Lebens. Das „Fleisch“, das in allen Kulturen für Vergänglichkeit und Verwesung steht, wird durch den Genuss des göttlichen Fleisches, des göttlichen Blutes zum „leidenthobenen Leib“ gewandelt. Diese Lehre ist von Grund auf Angstüberwindung. Sie ist systemrelevant.
„Brot ist uns Christus geworden und Wein. Speise und Trank. Essen dürfen wir ihn und trinken. Brot ist Treue und standhafte Festigkeit. Wein ist Kühnheit, Freude über alles Erdenmaß, Duft und Schönheit, Weite und Gewähren ohne Grenzen. Rausch des Lebens und Besitzens und Spendens…“ [R. Guardini, Brot und Wein, in: Heilige Zeichen, Mainz 1927]. So werden wir Corona überleben, entweder auf dieser Seite des Lebens oder auf der anderen, endlich vollkommenen Seite.


 

 

Die Religionsphilosophin und Guardini-Biografin Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz hatte von 1993 bis 2011 den Lehrstuhl für Religionsphilosophie an der TU Dresden inne. Seit 2011 ist sie Vorstand des Europäischen Instituts für Philosophie und Religion in Heiligenkreuz bei Wien.

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