Guardini akut | KW 9/2021
Zeitenwende
Die besondere Perspektive einer als evangelische Christin in der DDR aufgewachsenen Politikerin auf die Coronakrise
Von Katharina Landgraf MdB
Vor genau 31 Jahren bin ich in der damals noch bestehenden DDR in das furchtbar kalte Wasser der Politik gesprungen – mit der ersten freien Wahl zur Volkskammer am 18. März 1990. Knapp sechs Monate später stimmte ich als CDU-Abgeordnete im „Palast der Republik“ für den Beitritt des maroden Arbeiter- und Bauernstaates zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland. Das war für mich als junge Frau und Mutter von vier Kindern eine ganz persönliche friedliche Revolution – getragen von der klaren Einsicht in die Notwendigkeit, Freiheit und Grundrechte zu erringen und diese leben zu können.
Wir im Osten erlebten damals eine Zeitenwende, auch dank des berühmten Artikels 23 des Grundgesetzes. Fast das ganze bisherige öffentliche Leben war in Frage gestellt und nicht mehr gültig. Die Diktatur einer Partei und ihres Systems war plötzlich wie weggepustet. Was blieb, war unser Gefühl für Leben und Freiheit – fortan in neuen Grenzen.
Als evangelische Christin muss ich in der DDR gemeinsam mit meiner Familie, mit unseren Freunden und mit der Kirchgemeinde gemeinhin eine Alltagskünstlerin gewesen sein. Wir lebten unsere Freiheiten in Nischen des SED-Staatssystems. Nur so konnten wir diese Zeit überstehen. Möglicherweise waren für uns die Gedanken des Philosophen Hegel zur Freiheit wie auch das bekannte Zitat von Friedrich Engels in seinem „Anti-Dühring“ hilfreich und allgegenwärtig: Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit. Und das war wichtig für unser eigenes seelisches Gleichgewicht – im christlichen Glauben und in der ständigen „Hoffnung auf bessere Zeiten“. Von Letzterem zehrten die meisten Menschen „im Osten“ während ihres gesamten Lebens.
Seit nunmehr einem Jahr hat ein scheinbar unsichtbarer Teil der Schöpfung Gottes, ein Virus, uns in Deutschland und nahezu in allen besiedelten Regionen der Erde in einem beängstigenden Würgegriff. Die unglaubliche Bedrohung der heutigen Zivilisation durch das Corona-Virus verändert unser aller Leben. Warum trauen wir uns nicht, Klartext zu sprechen? Wir sollten in der Politik, im Staat, in der Wirtschaft und Wissenschaft mit aller Deutlichkeit sagen: Es ist eine Naturkatastrophe, die wir in dieser Dimension noch nie erleben mussten. Diese Coronakatastrophe können wir nur in einer Schicksals- und Solidargemeinschaft hierzulande, in der Europäischen Union und weltweit bewältigen. Wir sitzen buchstäblich mit der gesamten Menschheit in einem Boot. Heute – zum baldigen Ende meines Mandats als Bundestagsabgeordnete – fühle ich mich deshalb wieder in einer historischen Zeitenwende, allerdings dieses Mal in einer globalen Dimension.
Seit dem Frühjahr 2020 habe ich als Abgeordnete mit meinem Votum gemeinsam mit anderen dafür sorgen können, dass in Deutschland per Gesetz ein wesentlich besserer Infektionsschutz möglich sein kann. Die klare Einsicht in die Notwendigkeit der Gesetzesänderungen war für mich persönlich der entscheidende Kompass dafür, im Interesse des Schutzes vor dem Virus liebgewordene Freiheiten der Menschen, letztlich in deren Interesse, einzuschränken. Weil wir Menschen ungewollt Transporteure dieses Virus sind.
Die Gesetze und Verordnungen zur Bekämpfung der Coronapandemie sind die eine Seite der Medaille. Die andere: Das tatsächliche Leben der Menschen, für die eigentlich Schutz aufgebaut und ermöglicht werden soll. Dabei aktiv mitzuwirken, ist ganz im Sinne unseres Grundgesetzes, das die Gesellschaft wie auch jeden einzelnen in die Pflicht nimmt. Das Grundgesetz ist ein Gesamtwerk und kein Selbstbedienungsshop, aus dessen Regalen man sich je nach Gutdünken das passende Recht und die jeweilige Freiheit herausgreifen und in den Einkaufskorb legen kann.
Die Erfahrungen meiner eigenen Covid-19-Erkrankung zu Jahresbeginn 2021 haben mich zweifelsohne noch sensibler gemacht, jedoch zugleich in mir auch für eine neue seelische Immunität gesorgt: Innehalten und Gegebenheiten einfach nur akzeptieren. Das hat mit Resignation nichts zu tun. Es ist schlichtweg Einsicht in die Notwendigkeit.
Trotz gründlicher Einhaltung der „AHA“-Regeln fand das Virus ein kleines Schlupfloch in meiner Familie, traf vier Generationen schwer. Wir sind über Wochen gewissermaßen durch einen brennenden Dornenwald gegangen, ohne Geruchs- und Geschmackssinn, mit unglaublichen Schmerzen und ohne jegliche Kraft.
Am Ende waren wir allesamt einfach nur froh, als meine neunzigjährige Mutter ihr Aufbäumen gegen Corona gewinnen konnte. Als sie aus dem Krankenhaus entlassen wurde, bildete das Pflegeteam für die kleine, geschwächte Patientin ein Ehrenspalier. Das ist ein hoffnungsvolles Bild in unserer egomanisch geprägten Gesellschaft, die wahrscheinlich den Ernst der Zeit noch nicht erkannt hat. In diesen Tagen macht sich der Irrglaube breit, dass man in den verschiedensten Verantwortungen mit Lockerungsübungen der Pandemie und dem veränderungsfähigen Corona-Virus Paroli bieten könnte.
Die Coronakatastrophe ist schlussendlich ein Weckruf, mit einer solchen Bedrohung zurechtzukommen. Sie erfordert jedoch Umkehr in unglaublich vielen Dingen unseres gewohnten Lebens. Kurzum: Die Welt ist schon mit Covid-19 eine andere geworden. Danach wird sie auch eine ganz andere sein. Das ist meine große Hoffnung zur neuen Zeitenwende, die von den heutigen und kommenden Generationen – auch in der Politik – bewältigt werden muss.
Katharina Landgraf, Diplom-Ingenieurin für Meliorationswesen, gehört seit 2005 dem Deutschen Bundestag mit dem Direktmandat für den Wahlkreis Leipzig-Land an. Schwerpunkte ihrer Arbeit sind die Familien-, Landwirtschafts- und Ernährungspolitik. Zuvor war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin der Konrad-Adenauer-Stiftung und von 1999 bis 2004 Mitglied des Sächsischen Landtages. Beratend wirkte sie als evangelische Christin und MdB u. a. in der Kammer für Soziale Ordnung der EKD mit und ist seit vielen Jahren ehrenamtliche Vorstandsvorsitzende des Bildungswerkes Sachsen der Deutschen Gesellschaft e. V. Der Leitspruch ihres vielfältigen Engagements ist (nach Cicero): „Wir sind nicht für uns allein geboren.“