Guardini akut | Der Mauerbau kommt vor dem Mauerfall

Guardini akut | KW 31 und 32/2021

Der Mauerbau kommt vor dem Mauerfall

Von Lutz Rathenow

1
Meine Eltern hatten Ende Juli 1961 den Wohnungsschlüssel einer befreundeten Familie. Zum Blumen gießen, erklärte mir meine Mutter. Wir waren zusammen dort und gossen wirklich auch Blumen, aber etwas stimmte nicht an der Art wie Mutti – so nannte ich sie als Neunjähriger – die Wohnung betrachtete. Dann war das kinderlose Ehepaar plötzlich wieder da, der Urlaub viel früher beendet als geplant. Kurz vor dem Mauerbau, der tagelang alle Gespräche beherrschte. Empörung bei der Mutter. „Schimpf nicht so laut“, sagte der Vater, der noch nicht Direktor der Städtischen Verkehrsbetriebe geworden war.

Irgendwann erklärte Ursula (zu einer Zeit in der ich meine Mutter mit ihrem Vornamen ansprach), dass sie damals den Schlüssel bekommen hatten, um die Wohnung auszuräumen. Das befreundete Ehepaar wollte in Westberlin bleiben – auf ein Telegramm hin (Tante ist wieder gesund) sollten meine Eltern vor der Staatssicherheit aktiv werden und sich nehmen, was ihnen gefiel und mögliche belastenden Sachen vernichten. Was hatte Onkel Horst und Tante Idi zur Umkehr bewogen? Keine exakte Antwort von Ursula, die ein einziges Mal darüber redete. Es war wohl zu viel Betrieb auf den Ämtern in Westberlin gewesen. Die vielen Flüchtlinge im Aufnahmelager hielten sie davon ab, Flüchtling werden zu wollen, da ging es halt nach Jena zurück.

2
Die Mauer präsentierte sich drohend und protzig, ihre Errichtung in Ost-Berlin wurde von der DDR geradezu inszeniert. Die Grenze durch Deutschland versteckte sich dagegen, keine Karte sollte sie zu genau aufzeigen, niemand wissen, was wo genau war. An dieser Grenze hatte ich als Soldat zwölf Monate Dienst. Wir schreiben die Jahre 1972/1973, der Ort: eine ziemlich alte Kaserne bei Sonneberg (Thüringen) als Kompaniegebäude.

Ich erinnere mich an einen jungen Leutnant, der uns als Kontrolleur besonders eifrig kontrollierte und striezte. Ich hatte ein halbes Jahr Ausgangssperre und erlebte die Verwandlung des Menschen in einen Gefangenen, den es nach Rache drängt. Aus einem dumpfen Gefühl wuchs das im Kopf klar formulierte Bedürfnis, Leutnant X zu töten. Und einmal wäre es fast soweit gewesen. Zu zweit saßen wir irgendwo in der Landschaft, die wir kontrollieren sollten, und eigentlich durften wir schon nicht sitzen, und der Leutnant war an diesem Abend wieder dran, die Posten zu überprüfen. Es muss schon in der Nacht gewesen sein, als ich sein Anschleichen vernahm. Oder robbte er sogar auf uns zu, um uns nachlässigen Verhaltens zu überführen. Deshalb reagierte er auch nicht auf den vorgeschriebenen Anruf „Halt! Wer da!“. Das war sein gefährlicher Übereifer, denn damit ging er von der Vorstellung aus, ich würde nur aus Unsicherheit, einfach probehalber den Spruch in den Wald schreien. Ich hörte genau, wo er war und entsicherte sofort. Jetzt musste ich den vorgeschriebenen Warnschuss abgeben und dann, möglichst rasch, den Rest des Magazins verwenden. Auf Dauerfeuer hatte ich schon gestellt. Gezielte, nicht tödliche Schüsse waren im vorhandenen Dunkel ohnehin nicht möglich. Es kam auf die Pause zwischen Warnschuss und der folgenden Salve an. Wurde die zu groß, würde er sich rufend zu erkennen geben. War die Pause zu kurz, wirkte die ganze Aktion wie eine geplante Tötung. Es würde von der Aussage meines Partners abhängen, ob ich wegen ausgezeichneter Pflichterfüllung den vaterländischen Verdienstorden in Gold oder wegen Mordes ein Verfahren bekommen würde. Es gab noch die Todesstrafe. „Ein Grenzverletzer!“, rief ich möglichst echt schockiert dem zweiten Posten zu und hob die Maschinenpistole zum Warnschuss, da humpelte der Leutnant schon aufgeregt und laut heran. „Ich bin’s, nicht schießen!“ Er begriff mich besser, als ich es vermutete und kontrollierte bis zum Ende meiner Zeit dort nie wieder.

3
Alles, was in der DDR für mich interessant war, hing irgendwie mit der Mauer zusammen.  „Hat“, fragt mein Sohn, vier Jahre, „Dornröschen auch eine Mauer? Ist in Berlin hinter der Mauer ein Schloss? Warum blühen da keine Rosen? Hat die Mauer Dornen? Warum gibt es nicht in jeder Stadt Grenzen? Welche Sprache reden Soldaten?“  Immer wieder die Grenze. Ein geheimnisvoller Magnetismus geht von ihr aus. Ein Reiz, unabhängig von politischer oder moralischer Deutung. Politisch verstand ich den Bau der Mauer, moralisch entrüstete ich mich – eigentlich geht beides an dem vorbei, was sie heute bedeutet: die zu Stein verdichtete Form eines gesellschaftlichen Widerspruchs. Natürlich ist das Ding pervers, aber es zeigt seine Krankheit und verbirgt sie nicht verklemmt. Der Verlust dieses Bauwerks würde das Leben hier ärmer machen. Und wenn nur die Wut darauf abhandenkäme. Und nicht nur die ist es. Die Mauer als Motor, der permanent Spannung erzeugt. Sie fordert heraus, zwingt vieles Alltägliche, sich seiner Oberflächlichkeiten zu entschälen, um auf den Kern zu kommen – möge er auch schwer genießbar sein. Dieses Messer der Geschichte, rabiat einen Ort entzweischneidend, der sich zu mehr auswuchs als den Hälften jener vorher existierenden Stadt. Im Moment der Trennung waren beide Teile am Auseinanderfallen, sodass die Mauer sie zusammenfügte. Ein Reißverschluss. Der Kitt von Ganzberlin. Ihr Name als Metapher für etwas, das eine spröde Hoffnung enthält. Abgrenzung wird nur für nötig erachtet, wo sich Dinge zu vermengen drohen.


 

Der Schriftsteller Lutz Rathenow, geboren und aufgewachsen in der ehemaligen DDR, gründete 1973 den Arbeitskreis „Literatur und Lyrik“, der 1975 verboten wurde. Er, der zwischenzeitlich als Transportarbeiter und Beifahrer arbeitete, lebte seit 1978 in Ostberlin und wurde zum Mitbegründer der sogenannten Prenzlauer-Berlin-Szene. 1980 wurde er verhaftet, drei Monate später wurde das Verfahren gegen ihn eingestellt. Zuletzt erschienen „Der Elefant auf dem Trampolin“ (2017) und „Ostberlin“ (2019).

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