Guardini akut | Wir wissen nicht, was gilt

Guardini akut | KW 23/2020

Wir wissen nicht, was gilt

Die Covid-Krise ist keine Naturkatastrophe im Sinne eines Erdbebens, sondern eine direkte Folge menschlichen Fehlverhaltens. Nun müssen die „Weltbürger“ Konsequenzen ziehen.
Von Jean Greisch

Heute, am Fest Christi Himmelfahrt, lese ich wiederum Paul Celans wunderbares Gedicht: „Zürich, Zum Storchen“ in der Niemandsrose. Es verknüpft sich für mich mit der Erinnerung an meinen ersten Besuch in Berlin, anlässlich des ersten Katholikentags nach der Wende, im Jahre 1990, währenddessen ich dieses Gedicht kommentierte.

Seither sind viele bisher geltende Selbstverständlichkeiten und auch viele Hoffnungsträume von den Rädern eines blinden Fortschrittsglaubens zerrieben worden. Ein nüchterner Blick auf die Covid-Krise, deren Folgen zur Zeit noch unabsehbar sind, liefert uns viele Gründe, die Schlussverse von Celans Gedicht, das auf eine Begegnung mit Nelly Sachs „am Tag einer Himmelfahrt“ zurückgeht, neu zu überdenken:

Wir
wissen ja nicht, weisst du,
wir
wissen ja nicht,
was
gilt.

Weniger denn je wissen wir auch heute, „was gilt“, worauf Verlass ist, und ebenso wenig, was noch auf uns zukommt.

In den zwei letzten Monaten, während derer ich wie die Mehrheit der französischen Bevölkerung unter Hausarrest stand, und die halbe Menschheit sich in einem weltumgreifenden Belagerungszustand befand, habe ich mir erst mühsam ein neues Vokabular aneignen müssen, dessen Gebrauchsanweisung immer noch ziemlich unklar ist: „pandémie“ (Pandemie), „confinement“ (Ausgangssperre), „déconfinement“ (Aufhebung der Ausgangssperre), „distanciation sociale“ (soziale Distanzierung), „gestes barrières“ (Abgrenzungsgebärden), „traçage numérique“ (digitales Tracking) usw.

Unter den vielen Ungewissheiten gerät die Einsicht, dass es sich um keine Naturkatastrophe nach Art eines Erdbebens, sondern um die Folge menschlichen Fehlverhaltens handelt, leicht aus dem Blick. Die grenzüberschreitende Ausbreitung des Coronavirus erinnert uns unerbittlich daran, dass wir auf Gedeih und Verderb „Weltbürger“ sind. Im Zeitalter des „Anthropozän“ sind wir indessen „Weltbürger“ auf eine andere Weise als zur Zeit der Spätantike, als die stoischen Philosophen (etwa Epiktet und Mark Aurel) diesen Begriff in Umlauf brachten, anders auch als zur Zeit Kants, der die Philosophie „in weltbürgerlicher Absicht“ auf die Beantwortung der vier Grundfragen: „Was kann ich wissen?“, „Was soll ich tun?“, „Was darf ich hoffen?“, „Was ist der Mensch?“ verpflichtete.

Insbesondere die letzte Frage erhält einen völlig neuen Sinn, wenn wir sie als Einladung zu einer grundsätzlichen Neubesinnung auf das Verhältnis des Menschen zu allen übrigen Lebenden und auf die Voraussetzungen einer bewohnbaren Welt verstehen. In seinem soeben erschienenen Buch Manières d’être vivant (Paris, Actes Sud, 2020) hat der französische Philosoph Baptiste Morizot im Rückgriff auf den Begriff des „Kosmopolitischen“ den Ausdruck: „cosmopolitesse“ (dem Kosmos geschuldete Höflichkeit) geprägt, eine Form der „Politesse“, die man unschwer in Bezug zu vielen Themen der Papstenzyklika Laudato si setzen kann.

Dass das Blatt sich gewendet hat und dass wir einen völlig neuen Blick auf uns selbst, unsere Umwelt und die Welt überhaupt werfen müssen, ist unbestreitbar. Wir sind ins“Zeitalter der Konsequenzen“ (Jean-Michel Valentin) eingetreten, eine Krisenzeit, deren Ende noch unabsehbar ist, in der dennoch möglichst bald radikale Konsequenzen aus dem bisher herrschenden Fehlverhalten gezogen werden müssen.

In dieser Zeit einer radikalen Umkehr stellt sich auch die Frage „Was darf ich hoffen?“ unter völlig neuen Bedingungen, die sich keinesfalls nur auf den Bereich des Religiösen im engen Sinn beschränken. Vor allem die jungen Generationen müssen diese Umkehr leisten, anstatt sich einer Katastrophen- oder Weltuntergangsstimmung oder der Verzweiflung zu überlassen – unabhängig davon, ob die politischen und wirtschaftlichen Machthaber sie dabei unterstützen oder nicht. Fraglos bedürfen sie hierfür einer neuen Art des Muts und der Unerschrockenheit, um diese ihnen bevorstehende „Anabasis“ zu leisten.

Letzteres Stichwort führt mich zum Ausgang meiner Überlegungen zurück. „Anabasis“ lautet der Titel eines anderen Gedichts aus dem Zyklus der Niemandrose. Im Anklang an die „Leuchtglockentöne“ der Mozart-Motette Exultate Jubilate erkundet Celan den Weg in eine „herzhelle Zukunft“, deren Losewort „das frei-werdende Zeltwort“ „Mitsammen“ lautet. Hoffentlich gelingt es den neuen Generationen, die sich gerade erst an das barbarische Vokabular der Covid-Krise gewöhnt haben, diesem freiwerdenden, um nicht zu sagen „erlösenden“ „Zeltwort“, seine volle Aktualität zu geben.


Der Philosoph und Theologe Prof. Dr. Jean Greisch stammt aus Luxemburg. Er ist emeritierter Professor für Philosophie an der Philosophischen Fakultät des Institut Catholique in Paris und Mitarbeiter an der von Paul Ricœur gegründeten Forschungsabteilung „Philosophie und Hermeneutik“ am CNRS in Paris. Von 2009 bis 2012 war er Inhaber des Guardini Lehrstuhls an der Humboldt-Universität zu Berlin.

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