Guardini akut | Interview mit Silvia Richter

Guardini akut | KW 22/2020

„Eine Vorlesung ist ein Ereignis, dem man beiwohnt“

Die Corona-Pandemie zwingt die Hochschulen, digitale Lehrformate zu entwickeln. Was fehlt, was ist besser? Wie sieht die Zukunft aus? Ein Gespräch mit Dr. Silvia Richter.
Von Andreas Öhler

Sie sind seit dem 1. Januar 2013 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Guardini Professur. Diese ist Anfang Dezember letzten Jahres nun von der Theologischen Fakultät in das neu entstandene Institut für Katholische Theologie überführt worden. Sind sie inzwischen angekommen?

Nach anfänglichen Startproblemen, die vor allem logistischer Natur waren, beginnen wir gerade mit der Formierung der Lehrkräfte und des Personals. Im zweiten Schritt entsteht erst das Lehrprogramm. Die Berufungen sind vor einigen Wochen erst alle vollzogen worden.

Und dann kam Ihnen die Pandemie in die Quere. Herrscht nun Stillstand? Welche Formate der Lehre werden aktuell angewandt?

Vor Semesterbeginn verständigte sich die Kollegschaft auf ein einheitliches Videokonferenz-Portal: Zoom ist jetzt Standard. Aber was das Angebot der Lehrveranstaltungen angeht, gibt es Unterschiede. Einige Dozenten geben Lektüreseminare; die Texte stehen dann online, dazu stellen sie Arbeitsaufgaben. Es gibt am Anfang des Semesters, in der Mitte und zum Abschluss die Möglichkeit zu Feedback und Austausch. Andere Lehrkräfte bieten Blockseminare an.  Professor Ugo Perone und ich bieten jede Woche online unsere Lehrveranstaltungen an.

Mit welchem Resultat?

Die Guardini-Lehrveranstaltungen werden nach wie vor stark frequentiert. Seit ein paar Jahren hatte Ugo Perone regelmäßig über hundert Einschreibungen in seiner Vorlesung. Die mussten wir dann in den größten Hörsaal der Theologischen Fakultät verlegen, weil sonst der Seminarraum aus den Nähten geplatzt wäre. Mein Chef findet sich in der Online-Didaktik wunderbar zurecht: Selbst in der Corona-Zeit, hat er 35 Netz-Studierende in seiner Vorlesung, das ist ungeheuer viel. Und er unterrichtet volle 90 Minuten! Wir befürchteten, dass wir ältere Gasthörer, die von Anfang an in jeder Vorlesung von Herrn Perone dabei waren – so eine Art „Perone-Fanclub“ –, durch den digitalen Umstieg verloren hätten. Aber selbst die haben den Schritt in die digitale Welt gewagt!

Wird das jetzige Semester eine Lehre für die Zukunft oder ein Ausnahmesemester bleiben?

Man kann nicht eine Lehrpraxis so radikal digitalisieren, um dann einfach so wieder zum Präsenzunterricht zurückzukehren. Wir werden uns an die Formate gewöhnen, zumal wir ja auch die Vorteile deutlich erkennen.

Die da wären?

Jetzt können z. B. Wissenschaftler_innen aus der ganzen Welt an Konferenzen partizipieren, deren Einladung die Hochschule viel zu teuer gekommen wäre. Der bürokratische Aufwand, der mit Veranstaltungsplanungen einhergeht, wird geringer und die Personalressourcen können nun wieder mehr für die Lehre genutzt werden.

Wie soll es denn im Herbst dieses Jahres weitergehen?

Ob es wieder ein digitales Semester werden wird, muss man sehen. Vom Institut für Philosophie heißt es, dass es den älteren Professor_innen und Dozent_innen, die einer Risikogruppe angehören, freigestellt wird, auf Wunsch die digitale Lehre beizubehalten.

Aber zahlen die Studierenden nicht die Zeche?

Es ist kein offizielles Semester und wird auch nicht auf die Regelstudienzeit angerechnet. Die HU-Präsidentin Sabine Kunst hat es ein „Experimentiersemester“ genannt. Die Studierenden sollen wenigstens die Möglichkeit bekommen, ihre Creditpoints zusammenzubekommen.

Beschreiben Sie doch ein paar persönliche Erfahrungen.

Ob man vier Studierende hat oder fünfunddreißig, es beschleicht einen doch immer wieder das Gefühl, man spricht zu sich selbst. Andrerseits nimmt man die Studierenden auch vielmehr als unverwechselbare Individuen wahr, in ihrem natürlichen Biotop. Und sie verstecken es auch gar nicht. Die machen sich gar keine Gedanken darüber, wie das auf die Lehrkraft wirkt, wenn das Gegenüber im Liegestuhl sitzt und raucht.

Wird die klassische Vorlesung dadurch verschwinden?

Nein. Wenn Präsenz möglich ist, würde ich wieder umstellen. Ich vermisse das persönliche Verhältnis zu den Studierenden. Eine Vorlesung ist ja auch eine auratisch hochaufgeladene Angelegenheit. Früher zog man in die Städte von weither kommend, weil man den oder die Professor_in hören wollte. Es ist ein Ereignis, dem man beiwohnt. Und wenn das aber nur über den Bildschirm stattfindet, fehlt mir etwas.


Dr. Silvia Richter ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Guardini Professur für Religionsphilosophie und Theologische Ideengeschichte der Humboldt-Universität zu Berlin. Nach ihrer Dissertation über Emmanuel Lévinas und Franz Rosenzweig an der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg, arbeitete sie in Paris am Mémorial de la Shoah, bevor sie nach Berlin kam. Neben ihrer wissenschaftlichen Arbeit ist sie auch literarisch tätig: In Kürze erscheint ihr erster Lyrikband „Alphabet des Schweigens“ (Freigeist Verlag 2020).

Kategorien: