Guardini akut | Nr. 56 | 15. August 2023

Guardini akut | Nr. 56 | 15. August 2023

„Die Normalität“, so soll es der Maler Vincent van Gogh einmal formuliert haben, „ist eine gepflasterte Straße; man kann gut darauf gehen, doch es wachsen keine Blumen auf ihr.“ Keiner malte so viele Blumen und keiner malte sie so wie er. Das Meer von Sonnenblumen wäre danach ein Maßstab für Wahnsinn. Der Künstler verbrachte schließlich die letzten Jahre seines Lebens in einer Irrenanstalt unweit der französischen Stadt Arles, in einem alten Kloster, das heute noch als psychiatrische Einrichtung fungiert. Auf der Straße, die van Gogh beschreibt, wird heute noch marschiert und paradiert. Und wer aus dem Tritt kommt, fällt. Er fällt aus der Norm.

Wer die Macht hat, setzt die Normen, die den Status Quo erhalten. In einer Sprache, in der „Dir blüht etwas!“ eine Drohung ist, wird als derjenige Wildwuchs betrachtet, der sich nicht einpassen lässt.

Die Kirchen haben bedauerlicherweise in ihrer Geschichte immer wieder solche Normen gesetzt, das theologische Rüstzeug geliefert, um Unangepasste auszuschließen oder wenigstens zu verängstigen. Die ewige Verdammnis ist ein gewichtiges Argument für normgerechtes Verhalten. Andererseits kann die Seele in der Spiritualität des Glaubens aufblühen. Im Klostergarten gleicht keine Pflanze der anderen. Manche töten, manche heilen – wenn auch in einem stärker gehegten Umfeld als in der Wildnis.

Diese Ausgabe von Guardini Akut widmet sich der Frage: Was ist normal? Darin ist impliziert: Ist normal zu sein überhaupt gut? Im Zeitalter der Individualität gerät das normative Denken in eine Sinnkrise. Längst ist unter Populist*innen die „Normalität“ zum Kampfbegriff geworden gegen Migration, gegen Feminismus, gegen eine neue Feinfühligkeit. Haben wir es mit einem Kulturkampf der Normen zu tun?

Guardini akut Nr. 56 wird von zwei Patres bestritten. Der Benediktinerpater Anselm Grün hat sich als Trainer für Führungskräfte und Autor spiritueller Bücher einen Namen gemacht. Er schreibt über gesunde und ungesunde Spiritualität.

Pater Ulrich Engel OP ist Mitglied des Dominikanerordens. Der Professor lehrt am Campus für Theologie und Spiritualität in Berlin. Beide Ansätze, Spiritualität und Normativität in Beziehung zu setzen, unterscheiden sich voneinander und können sich in der Zusammenschau gegenseitig befruchten.

Das Gedicht mit dem Titel „Normal“ in dieser Folge stammt von Armin Lammer. Er hat es im Jahr 2004 für die Festschrift zum 40-jährigen Bestehen der Lebenshilfe Unterer Niederrhein geschrieben, deren Geschäftsführer er damals war. Das beigefügte Gemälde malte Pater Ulrich Engels dominikanischer Kommunitätsgenosse Amirhoushang J. Rahmannejad OP. Durch seine Perspektive können wir einen inspirierten Blick auf Abgrenzung und Normalität werfen.


Was ist normal?

Wie Psychotherapeuten und frühe christliche Mönche das Spektrum des Normalen abstecken
Von Anselm Grün OSB

Von der Wortbedeutung her ist normal, was der Norm entspricht, was mit der allgemeinen Regel und den Maßstäben der Mehrheit konform ist. Doch sowohl die Psychotherapie als auch die Spiritualität geben sich mit dieser Definition nicht zufrieden. Von der Therapie her ist das Verhalten normal, das nicht auffällt, das nicht von heftigen Emotionen geschüttelt und beherrscht wird. Und normal ist der, der das alltägliche Leben meistert, ohne groß aufzufallen. Dennoch weigert sich die Psychologie, einen festen Maßstab für das Normale zu definieren. Normal ist der, der mit seinen Trieben angemessen umgeht, der die Wirklichkeit der Welt und seine eigene Lebensgeschichte akzeptieren kann. Aber zur Normalität gehört durchaus auch, dass ich meine Fehler und Schwächen habe, dass ich Schattenseiten habe, die ich gerne verdränge. Normal sein heißt nicht, perfekt zu sein, sondern mit seinen Fehlern und Schwächen angemessen umzugehen, ohne dass man von irgendwelchen Trieben oder Schattenseiten beherrscht wird.

Auch die Spiritualität kann keine klare Definition des Normalen geben. Normal ist von der Spiritualität her einer, der ein Gottesbild in sich trägt, das für den Menschen heilsam ist. Alles Extreme ist nicht normal. Die frühen Mönche sagen: Alles Übermaß ist von den Dämonen. Es gibt daher übermäßig fromme Menschen, die aber oft von inneren Zwängen heimgesucht werden. Normal ist ein geistlicher Mensch, der ohne Angst sich von Gott getragen und angenommen weiß. Und normal ist der, der betet und sein Leben mit Gott lebt. Aber er stellt sich nicht über die anderen Menschen und er hält sich nicht für etwas Besonderes. Er ist Mensch unter Menschen.

Von der Spiritualität her könnte man sagen, dass das Normale immer auch das Gesunde für den Menschen ist. Es gibt eine ungesunde Spiritualität, die von Angst geprägt ist, die zwanghaft ist und die den Menschen antreibt, immer asketischer und spiritueller zu leben. Und ungesund ist eine Spiritualität, die sich von hohen Idealen dazu verleiten lässt, alles Negative zu verdrängen. Eine ungesunde Spiritualität spaltet den Menschen, eine gesunde Spiritualität zeigt ihm dagegen den Weg, alles in sich anzunehmen und es in die Beziehung zu Gott zu bringen. In diesem Sinn war die Spiritualität der frühen Mönche eine gesunde Spiritualität, weil sie alle Gedanken und Gefühle, die im Menschen auftauchen, anschauen und in die Beziehung zu Gott bringen. Sie sagen: Wir sind nicht verantwortlich für die Gedanken und Gefühle, die in uns auftauchen, sondern nur dafür, wie wir damit umgehen.

Für Evagrius Ponticus, den wichtigsten Vertreter des frühen Mönchtums (345–399 n. Chr.) ist die Sanftmut das Zeichen einer gesunden und „normalen“ Spiritualität. Härte und das Verurteilen anderer verweisen dagegen auf eine ungesunde Spiritualität, eine nicht normale Spiritualität. Die wahre Spiritualität nimmt ihr Maß an Jesus Christus, der weder ein Asket noch ein rechthaberischer Prophet wie Elija war, sondern der Messias, wie Petrus bekennt, der Sohn des lebendigen Gottes. Eine normale christliche Spiritualität zeichnet sich daher aus durch Freiheit, in die uns der Messias führen will, und durch Lebendigkeit, die ein Wesensmerkmal Jesu ist.

Guardini akut | Nr. 56 | 15. August 2023 – Guardini Stiftung e.V.

P. Dr. Anselm Grün OSB trat nach seinem Abitur im Alter von 19 Jahren in die Benediktinerabtei Münsterschwarzach ein. Nach seinem Studium wurde er zum Doktor der Theologie promoviert. Im Anschluss studierte er Betriebswirtschaftslehre und wirkte bis 2013 als Cellerar der Abtei. Er institutionalisierte den klostereigenen Vier-Türme-Verlag, in dem er seine ersten Bücher veröffentlichte. Mit aktuell mehr als 300 lieferbaren Titeln, über 14 Millionen weltweit verkauften Büchern und Übersetzungen in über 30 Sprachen gilt P. Anselm Grün als der erfolgreichste Autor spiritueller Bücher im deutschsprachigen Raum. Heute ist er geistlicher Leiter des Recollectio-Hauses und Geschäftsführer des Fair-Handels in Münsterschwarzach.


Normal

Von Armin Lammer

Wir sind zu groß, zu dünn, zu klein, zu dick,
missachtet oder wohl gelitten.
Wir haben Pech, wir haben Glück,
sind angesehen, auch umstritten.

Wir sind in Hast und in Geduld
und nur ganz selten ohne Sünde,
wir haben Recht, wir haben Schuld –
und dafür alle guten Gründe.

Wir sind von edelster Gesinnung
wie auch voller Niedertracht,
in guter und in schlechter Stimmung,
berechnend oder unbedacht.

Wir sind nach Gottes Bild geformt,
doch unvollkommen und verschieden,
nicht ideal und nicht genormt
und mit uns selbst meist unzufrieden.
Ob Jude, Moslem oder Christ,
ob helle oder dunkle Haut:
Ein Jeder bleibe, was er ist
und bei dem Gott, dem er vertraut.
Wir sind nicht heilig noch verdammt,
nicht Gute oder Schlechte.
Jedoch: Wir haben allesamt
die gleichen guten Rechte.

Fehlerlos sind Menschen nie,
und auch behindert – irgendwie.
Menschen sind wir allzumal
und so verschieden wie normal.


Normalität zwischen populistischem Sehnsuchtsort und widerständiger Praxis

Was normal ist, orientiert sich am Menschen.

Von Ulrich Engel OP

Normalität I: Von quantitativen Mehrheiten zur populistischen Mobilisierung
„Ich bin nicht religiös, ich bin normal“1, antwortete ein Teenager aus Leipzig auf die Frage, ob er religiös sei. Mit seiner Auskunft in eigener Sache zählt der Jugendliche zur Mehrheit der ostdeutschen Bevölkerung: Zwei Drittel der Menschen dort bezeichnen sich als nicht gläubig, das heißt: nicht religiös gebunden. In der DDR hat sich der real existierende Volksatheismus – so der Erfurter Philosoph Eberhard Tiefensee – neben Protestantismus und Katholizismus als dritte Konfession herausgebildet.2 Normalsein meint in diesem Zusammenhang zuerst einmal, sich auf der Linie der Überzeugungen, Haltungen und Traditionen der quantitativen Mehrheit zu bewegen.
Problematisch wird es, wenn aus der Feststellung mehrheitlich geteilter Überzeugungen, Haltungen und Traditionen ideologischer Konformitätsdruck erwächst. Denn dann wird die bis zu jenem Zeitpunkt „nur“ real existierende und damit auch soziologisch erhebbare Gemeinsamkeit zur Norm hochstilisiert. In dieser Perspektive wäre Normalität Anpassung im Windschatten Anderer, ohne eigene Meinung und ohne eigenen Standpunkt.
Von dort aus ist es nicht mehr weit zur populistischen Inanspruchnahme vorgeblicher Mehrheitsmeinungen. Etwa dort, wo für die eigene Position der Willen Gottes, der des Volkes („Wir sind das Volk!“), die Position der „einfachen Leute“, der „gesunde Menschenverstand“ etc. gegen die Meinung derer in Anschlag gebracht wird, die vorgeblich anormal sind: die Eliten, die Politiker (natürlich nicht gegendert!), „Die-da-oben“ und vorgebliche Häretiker*innen, gegen Geflüchtete und andere – u. a. sexuelle – Minderheiten. Aus solchen Populismen lässt sich enormes politisches Mobilisierungskapital schlagen. Die AfD macht es gerade – zumindest was die Umfragewerte betrifft – erfolgreich vor. „Normalität“ wird auf diese Weise zum populistischen Sehnsuchtsort.

Normalität II: Von extremen Dualismen zu menschengemäßen Mittelwerten
Ihren historischen Ursprung hat die Idee der Normalität in der Medizin. Als „normal“ gilt in diesem Kontext ein Zustand, der nicht deviant ist bzw. der die Ärztin nicht zu Interventionen zwingt. Das begriffliche Gegensatzpaar „normal“ vs. „anormal“ entspricht also der Differenz zwischen „gesund“ und „krank“. Dementsprechend interessieren sich Wissenschaft und Praxis der Medizin vor allem für den anormalen Krankheitszustand – denn nur dieser ist „für den medizinischen Code anschlussfähig“3.
Medizinhistorisch lässt sich allerdings aufweisen, dass die antike Medizin diese Extremwertungen gesund/normal vs. krank/anormal noch nicht kannte. Normalität war für sie vor allem der Mittelwert zwischen den Polen Gesundheit und Krankheit. Ausdruck solcher medizinischen Mittelwert-Konzepte sind später beispielsweise die Therapieansätze der Hl. Hildegard von Bingen (1098–1179) oder die Wasserkuren des Pfarrers Kneipp (1821–1897).
Nicht zu verwechseln sind die antiken und mittelalterlichen Mittelwert-Konzeptionen mit statistischen Durchschnittsberechnungen moderner Art. Simone Horstmann hat darauf hingewiesen, dass sich nach der μεσότης-Lehre des Aristoteles (griech.: mesotes = Mitte) das Normale im Sinne der „Verwirklichung des Guten als dem Mittleren […] nicht rechnerisch mit den Mitteln der Geometrie oder Arithmetik [ergibt], sondern […] die ‚Mitte in Bezug auf uns‘“4 zu orten ist. Bezugspunkt einer Normalität, die sich der aristotelischen μεσότης-Lehre verpflichtet weiß, ist also der Mensch. Menschliche Normalität hat demnach weder mit Extrem(ism)en – im Sinne eines Antagonismus zur Anomalität – zu tun, noch mit statistischen Mittelwerten nach Maßgabe der Gaußschen Normalverteilungskurve.

Normalität III: Vom Mehrheitsdiskurs zum prophetischen Widerstand
Wenn es stimmt, dass sich – zumindest in der hier präferierten Denktradition – Normalität ganz zentral am Maßstab „Mensch“ orientiert, dann kann es im Ernstfall notwendig werden, sich im Namen der Normalität gegen mehrheitlich geteilte bzw. praktizierte Überzeugungen, Haltungen und/oder Politiken zu stellen. Die prophetische Kritik des Jeremia an einer im Volk weitverbreiteten, s. E. aber unbegründeten Heilszuversicht5 steht dafür genauso wie der antifaschistische Widerstand des 20. Juli oder der Roten Kapelle. In dieser Perspektive können auch die immer gewaltfreien Blockaden der „Letzten Generation“ als ein Handeln gedeutet werden, das im Namen einer am menschlichen Wohl der nachfolgenden Generationen orientierten Normalität auftritt gegen ein demokratisch-mehrheitlich hingenommenes und somit faktisch akzeptiertes politisches Nichts- oder Zu-wenig-Tun wider die Folgen des Klimawandels.
Ja, im Ernstfall kann es ethisch angebracht sein, sich im Namen der am menschlichen Mittelwert orientierten Normalität und in prophetischer Manier gegen mehrheitlich geteilte Überzeugungen und Politiken zu stellen – auch wenn letztere sich auf ihre (vermeintliche) Normalität berufen. Begründungs- und konsequenzpflichtig sind dabei allerdings immer die Prophet*innen.

1 Zit. nach: Monika Wohlrab-Sahr, Religionslosigkeit als Thema der Religionssoziologie, in: Pastoraltheologie 90 (2001), 152–167, hier 152.
2 Vgl. Eberhard Tiefensee, Ökumene der „dritten Art“. Christliche Botschaft in areligiöser Umgebung, in: ders. / Klaus König / Engelberg Groß, Pastoral und Religionspädagogik in Säkularisierung und Globalisierung (Forum Religionspädagogik interkulturell Bd. 11), Münster 2006, 17–38.
3 Simone Horstmann, Ethik der Normalität. Zur Evolution moralischer Semantik in der Moderne (Diss. TU Dortmund, 2013) = https://eldorado.tu-dortmund.de/bitstream/2003/33555/1/Dissertation.pdf [Abruf: 05.08.2023].
4 Ebd., mit Zitat aus: Aristoteles, Nikomachische Ethik, übers. und hrsg. von Ursula Wolf, Hamburg 32011, Buch II, 6, 1.
5 Vgl. Ulrich Engel, Jeremia. Eine politische Existenz im Widerspruch zur herrschenden Macht, in: Wort und Antwort 34 (1993), 6–11.

Guardini akut | Nr. 56 | 15. August 2023 – Guardini Stiftung e.V.

Der Priester und Hochschullehrer Pater Prof. Dr. Ulrich Engel OP ist seit 2001 Direktor des dominikanischen Institut Marie-Dominique Chenu in Berlin. Seit 2022 ist er Gründungsbeauftragter des Campus für Theologie und Spiritualität in der Metropole. Das Projekt unter der Trägerschaft mehrerer Ordensgemeinschaften bietet jungen Gott- und Sinnsuchenden im urbanen Raum eine Sphäre des Diskurses und der geistlichen Auseinandersetzung. Pater Engel ist Mitglied des Präsidiums der Guardini Stiftung.


Guardini akut | Nr. 56 | 15. August 2023 – Guardini Stiftung e.V.
Amirhoushang J. Rahmannejad OP, Ohne Titel. Ohne Jahr
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