Theologische Predigt
Göttliche Frühlingsgefühle? Die Mystik des Sehnens Gottes nach den Menschen
Predigt: PD Dr. Michael Höffner
20. und 21. Mai 2023
Liebe Schwestern und Brüder,
wenn Ihnen in Italien jemand hinterherruft „Pazzo!“ oder Sie gefragt werden sollten „Sei pazzo?“, dann ist das nicht gerade als Kompliment zu verstehen. „Pazzo“, das bedeutet, dass jemand Sie für verrückt hält, unvernünftig, übermütig, nicht ganz zurechnungsfähig oder waghalsig. Als „pazzo“ bezeichnet zu werden, ist also keine Auszeichnung. Eine gewisse Ausnahme bilden Menschen mit Frühlingsgefühlen. Wenn jemand akut verliebt ist, sieht man ihm oder ihr eine gewisse Verrücktheit nach … oder rechnet sogar mit ihr.
Insofern kann ein Blick auf Katharina von Siena einerseits überraschen, womöglich sogar irritieren, andererseits aber auch nicht. Die italienische Dominikanerin des 14. Jahrhunderts spricht in ihrer Mystik von Gott nicht nur mit dem kraftvollen Bild des „fuoco“, des Feuers. Auch hat sie nicht nur ein Faible für das Herz Jesu. Sie scheut sich nicht, Gott „pazzo“ zu nennen, verrückt, verrückt nach seinem Geschöpf, dem Menschen. „… fermasti l’occhio nella bellezza della tua creatura, della quale tu come pazzo ed ebbro d’amore, t’inamorasti“ scheibt sie im vierten ihrer 26 Gebet: „… du hast dein Auge auf die Schönheit deines Geschöpfes gerichtet, in das du dich verliebt hast, als ob du verrückt und trunken vor Liebe wärst.“ Wenig später nimmt sie den Gedanken noch einmal auf: „… tu non se‘ altro che fuoco d’amore, pazzo della fattura tua“, „… du, Gott, bist nichts anderes als Feuer der Liebe, verrückt nach deinem Werk.“ Ähnlich formuliert sie in ihrem Hauptwerk, dem „Dialog mit der göttlichen Vorsehung“: „Tu, abisso di caritá, pare che impazzi delle tue creature, come tu senza loro non potessi vivere“ „Du, Abgrund der Liebe, scheinst nach deinen Geschöpfen verrückt zu sein, als könntest du ohne sie nicht leben, du, der du unser Gott bist, der uns nicht nötig hat.“
Wenn ich über die heutige Frühlingspredigt der Guardini-Stiftung die Frage gestellt habe: Göttliche Frühlingsgefühle?, dann könnte man mit Katharina von Siena das Frage- durch ein Ausrufezeichen ersetzen. Vieles von dem, was wir landläufig mit Frühlingsgefühlen verbinden, dass jemand im Zustand des Verliebtseins ist, die Hormone verrückt spielen, sich Schmetterlinge im Bauch bemerkbar machen, in uns ein ganzes biochemisches Feuerwerk abgefackelt wird, vieles davon scheint natürlich mutatis mutandis ähnlich für Gott zu gelten. Gott, ein leidenschaftlich Begehrender, einer, den es mit innerer Wucht nach einer geradezu intimen Beziehung zum Menschen verlangt, ein Gott pazzo di amore. Gottfried Bachl, der 2020 verstorbene österreichische Dogmatiker, fragt in seinen provozierenden Gottesfragebögen an einer Stelle: „Gibt es eine Pubertät des Absoluten – die Eifersucht Gottes?“ Ob Katharina von Siena diese natürlich überspitzte Frage rundherum verneint hätte?
Darf man so, wie diese italienische Mystikerin das riskiert, über Gott denken? So zu Gott beten? Kann so gewagt nur eine Ordensfrau ohne Theologiestudium denken?
Momentan, noch bis zum 3. Juli läuft im Diözesanmuseum Freising eine große Ausstellung mit dem Titel „Verdammte Lust! Kirche – Körper – Kunst.“ Manche werden das in Rezensionen der großen Medien verfolgt haben. Immer wieder wird in der Ausstellung deutlich, wie die christliche Tradition Lust und Begierde beargwöhnt hat. Mit Lust und Leidenschaft war der Schritt zur Sünde und zur Abkehr von Gott nicht fern. Lust und Begierde, so meinte man oft, müssten deshalb bestmöglich eingehegt und gezähmt werden. Bis heute kranken wir an diesen Einschätzungen.
Mir scheint allerdings, dass es der Rede von der Sehnsucht, der Begierde und Leidenschaft Gottes oft nicht viel anders ergangen ist. Um den leidenschaftlichen Gott eines Hosea, bei dem das Mitleid mit den Menschen förmlich auflodert, oder um einen Gott, der laut Jeremias Bekenntnissen Menschen förmlich betören und verführen kann, hat man oft genug eher einen Bogen gemacht, fast scheint es: ein wenig verlegen und peinlich berührt. Noch einmal: Darf man so begehrend von Gott denken?
Natürlich, von der Liebe Gottes zum Menschen ist bei uns oft die Rede. Das ist ja, wenn man so will, der Glutkern, christlicher Gottesrede. Aber wenn es im Neuen Testament um Gottes Liebe geht, dann im Sinne der agape. „Ὁ θεὸς ἀγάπη ἐστίν“, so steht es im Spitzensatz des 1. Johannesbriefs: Gott ist Liebe/Agape. Und Agape ist eben nicht die leidenschaftlich begehrende Liebe des Eros, sondern die selbstvergessene Liebe, die gibt, statt zu erwarten und zu nehmen, die Liebe, die sich selbst zurücknimmt, statt den ganzen Raum zu beanspruchen, die fürsorglich das Wohl des anderen sucht und nicht das eigene. Als christlich galt diese reine Agape. Liebe als Eros kommt im Neuen Testament zum einen begrifflich gar nicht vor und galt zudem eher als heidnisch. Und selbst da: Auch im heidnischen, griechischen Gottesbegriff war für den Eros so recht kein Platz. Für Platon ist der Eros zwar ein Daimon, eine Art Geistwesen, und der Eros ist der Weg des Menschen zum Göttlichen. Aber dass das Göttliche selbst Eros sei? Gott ist doch Fülle schlechthin, sich selbst genug, von daher wäre ein Begehren eines Gottes kaum würdig. Der unbewegte Beweger bei Aristoteles ist erst recht frei von jedem Pathos.
Der kurze Ausflug in die Geschichte lässt erkennen: Nicht nur in der menschlichen Liebe also hat man Agape und Eros oft auseinander dividiert, in Gegensatz zueinander gebracht, und den Eros beargwöhnt, auch im Blick auf die göttliche Liebe ist das geschehen.
Genau dagegen erheben viele Mystiker beherzt Einspruch. Sie wehren sich dagegen, Gott zu domestizieren, zu temperieren und bestehen darauf, Gottes Liebe als Agape und als Eros zu denken, ja neben der selbstvergessen schenkenden Liebe auch als Lust und Leidenschaft und Begehren nach dem Menschen.
Lassen Sie mich den eingangs zitierten Worten Katharina von Sienas noch vier weitere Beispiele solchen mystischen Gotteswissens an die Seite stellen.
Das erste Beispiel: Mechthild von Magdeburg. Sie schreibt im „fließenden Licht der Gottheit: „Gott hat an allen Dingen genug, nur allein an der Berührung der Seele wird ihm nie genug“ (4, 12). Etwas später wird ihre Gebetssprache noch intensiver: „Herr, Du bist allzeit liebeskrank nach mir.“ Gott ist für sie reine, unersättliche Sehnsucht nach dem Menschen. Ein Gott, der hofft auf Gegenliebe.
Das zweite Beispiel Meister Eckhart. Er notiert: „Niemals hat ein Mensch nach irgendetwas so sehr begehrt, wie Gott danach begehrt, den Menschen dahin zu bringen, dass er ihn erkenne.“ (II, 41). Aus seiner Sicht ist es Gott „viel nötiger, uns zu geben, ans uns, zu empfangen …“ (I, 447).
Das dritte Beispiel der spanische Mystiker Johannes vom Kreuz. In seiner „Dunklen Nacht“ ist zu lesen: „Vor allem muss man wissen: Wenn die Seele Gott sucht – viel dringlicher sucht Gott die Seele“ (II, 3, 28). Das menschliche Sehnen ist von Gottes Sehnen sozusagen immer schon überholt.
Und ein letztes, uns zeitlich näher stehendes Beispiel, die Französin Simone Weil mit dem berühmten Wort aus ihren Cahiers (IV, 131): „Die Zeit ist das Warten Gottes, der um unsere Liebe bettelt.“
Ganz vereinzelt beginnen Theologen der Gegenwart, sich von diesem mystischen Gotteswissen irritieren und herausfordern zu lassen. Eine von ihnen ist die anglikanische Theologin Sarah Coakley. Sie wagt es, von einem „protoerotic desire“ Gottes zu sprechen. Alles menschliche Sehnen und Ausstrecken nach Gott ist aus ihrer Sicht Resonanz auf ein Sehnen und Begehren Gottes nach dem Menschen. Der Mensch schwingt sich als Begehrter in eine Bewegung ein, die von woanders her kommt, die ihn ergreift und sein desire erst weckt.
Was könnte es für uns bedeuten, sich von diesem mystischen Gotteswissen irritieren und herausfordern zu lassen?
Würde es in unserem Beten etwas ändern, wenn wir uns in Gottes Präsenz versetzen, das zu tun imprägniert von dem kühnen Glauben vieler Mystiker, dass es Gott selbst sehnlich nach dieser Begegnung verlangt, dass er wartet auf mich? Oft ist das Beten sehr einseitig beschrieben worden als Bewegung des Menschen zu Gott: Erhebung der Seele/ des Gemütes zu Gott. Elevatio mentis ad Deum. Ist damit schon alles gesagt? In kaum einem Exerzitienbegleiter darf das Wort der Dichterin Nelly Sachs fehlen: „Alles beginnt mit der Sehnsucht“. Wie wäre es und was würde es ändern, davon auszugehen, dass mein Beten mit der Sehnsucht Gottes nach mir beginnt?
Foto & Grafikdesign Anja Matzker