Rezension | Religiöse Gestalten in Dostojewskis Werk

Romano Guardini – Eine Rezension von Heribert Körlings

Romano Guardini ermöglicht dem Leser den interessanten, spannenden Zugang zu Dostojewskijs vielseitigem Werk. Durch ausführliche Zitate lässt er die Figuren zu Wort kommen. Bewusst nicht aus literaturwissenschaftlicher, sondern aus existentieller Perspektive, richtet der Interpret seinen Blick auf  die Welt der vielen unterschiedlichen Figuren, die „unbegreifliche Vielfalt der Gestalten“ (S.316).

Das uferlos wirkende Material, dessen Fülle ihm zunächst zu schaffen macht, betrachtet Guardini aus christlich – religiöser Perspektive: Für Dostojewskij ist der Glaube an Gott zentral. Den Zugang zur Welt Dostojewskijs eröffnet Guardini mithilfe des Gegensatzes Beziehung oder Beziehungslosigkeit, das heißt Nähe oder Distanz.

Die zentrale Bedeutung der Beziehungs- und Glaubensperspektive lässt es als unheilvoll erscheinen, wenn der einzelne Mensch die Beziehung zu seinen Lebensgrundlagen und zu seinem Volk verliert. Als Folge davon „tritt das eigentlich Furchtbare ein: daß der Mensch die Verbindung mit der Quelle des Lebens und die Verbindung mit Gott verliert.“ (S. 183)

Für Guardini ist und bleibt Dostojewskij ein großer „Romantiker“ (S. 17 und S. 183, Anmerkung 30). Seine romantische Lebenseinstellung zeigt sich in doppelter Hinsicht: Es gibt grundlegende Tatsachen des Daseins: „Erde und Sonne, Tier und Pflanze, die Mutterschaft, das Leben des Kindes, Leid und Tod“ (S. 18). Diese haben religiöse Bedeutung, verweisen auf Gott.

Im Folgenden veranschauliche ich mit Bezug auf exemplarische Figuren und Zusammenhänge aus dem Werk Dostojewskijs, wie Guardini dem Leser die Begegnung mit ihnen und ihrem Autor eröffnet. Denn es geht Guardini um ein „Gespräch mit ihm [Dostojewskij] über die Dinge des Menschendaseins.“ (S.316)

Das einfache Volk steht in ungebrochener, selbstverständlicher Beziehung zu den Lebensgrundlagen. Deshalb ist Gott dem  Volk besonders nahe.

Guardini bringt mithilfe des Gegensatzes zwischen Nähe oder Distanz dem Leser unterschiedliche Figuren in Dostojewskijs  Werk nahe:

Im Gespräch mit dem Staretz Sossima im Roman „Die Brüder Karamasow“ kommen auch fromme Frauen aus dem nicht romantisch – verklärt, sondern realistisch dargestellten Volk zu Wort. Sie können durch die Hilfe dieses Priestermönchs ihre individuellen Belastungen und großes persönliches Leid ertragen.  „Menschlich gesehen ist ihr Schicksal ausweglos. Aber Gott ist da … Dieser Mensch existiert weiter in der Ausweglosigkeit seines Leidens und bleibt auf Gott bezogen, dessen Willen er nicht begreift, aber an dem er nicht irre wird.“ (S.23)

Die verlässliche Nähe in der Beziehung zu ihrem alkoholkranken Vater, ihrer Stiefmutter, ihrer armen Familie und zu dem Mörder Rodion Raskolnikoff zu leben, prägt auch die Persönlichkeit und das Verhalten der jungen Sonja Marmeladowa, der weiblichen Protagonistin des Romans „Schuld und Sühne“.

Diese religiöse Gestalt, das Mädchen Sonja, „lebt in all dem Schlimmen ein tiefes christliches Leben. Was ist sie durch Gott, der ihr alles gibt, fragt Guardini und antwortet: ‚Ihr Leben ist furchtbar… Aber Gott ist in diesem Menschenkinde offenbar in seiner ganzen lebendigen Wirklichkeit. Er ist Er – das ist jenes Alles und er ist ihr zugewendet. Und wir fühlen mit Ehrfurcht, was das bedeutet, wenn ein Mensch sagen kann, was er sei, sei er durch Gott. Hier ist die Innigkeit der Gotteskindschaft, mitten in der Ausweglosigkeit eines verlorenen Daseins – und es wird sich ja erweisen, daß ‚bei Gott möglich ist, was unmöglich ist bei den Menschen'“ (S.60). Guardini spielt damit auf den folgenden Zusammenhang an: Sonja steht zu dem Mörder Raskolnikoff; dieser nimmt seine Strafe auf sich. Die junge Frau teilt sein Leben in der Verbannung der Sträflingsexistenz. Am Ende der Romanhandlung steht die Beziehung zweier Liebender, der Beginn ihrer Auferstehung hier und jetzt.

Im Gegensatz dazu steht Nikolaj Stawrogin, die männliche Hauptfigur des Romans „Die Dämonen“. Er „hat selbst keinen Glauben“ (S. 220), wird von seinem Freund, dem zweiten Protagonisten „Pjotr Werchowenski, entwurzelt skrupellos und von einem Zynismus, der in Dostojewkijs Werk nicht leicht eine Parallele hat“ (S. 220) wie ein Messias verehrt. Stawrogin soll sich an die Spitze einer von Nihilismus und roher Gewalt geprägten revolutionären Bewegung stellen. Dem wird er nicht entsprechen. Er weiß um seine eigene innere Kälte, bleibt „gleichgültig ins Tiefste hinein“. (S. 235) In einem Traum bricht in dem herzlosen, zu mitmenschlicher Beziehung nicht fähigen Mann, der „weit weg auch von sich selbst“ (S.237) ist, „arm wie Eis (S. 237) „die Sehnsucht nach Erlöstheit, nach Licht, Schönheit und Liebe durch.“ (S. 236)

Die Sehnsucht nach einem sinnvollen mitmenschlichen Leben, verbunden mit Gott als der Lebensquelle, verkörpert Kirillow, eine andere Figur im Roman „Die Dämonen“: „In diesem Manne weint das Kind nach der Mutter. Eine verzehrende Sehnsucht nach Heimat ist in ihm, nach Heimat in Gott.“ (S. 190). Aber er verbietet es sich „Gott gegenüber Kind zu sein“ (S.190) unter dem Zwang selbstbestimmt und, wie er meint, nur so erwachsen zu sein. Kirillows Erlösung wäre in der Hingabe auf Christus hin möglich, „im glaubenden und liebenden Mitvollzug seines Daseins würde die als Qual und Angst erlebte Endlichkeit zur begnadeten Endlichkeit erlöst.“ (S.195)

Im eigenen Leben durch Gott an der erlösten und erlösenden Liebe des Gottmenschen Christus teilzuhaben, sie zu verkörpern, das prägt die Figur des Fürsten Myschkin, den Protagonisten des Romans „Der Idiot“. Dieses Werk Dostojewskijs hat für Guardini eine besondere Bedeutung: In dieser Figur wird das, was Christus ausmacht in das Dasein eines Menschen übersetzt. Myschkin, ein „Verstehender“ (S. 271), der, ohne die Mängel des anderen zu übersehen aus geheimnisvoller Demut „nie ‚richtet'“ (S. 270) und „gibt, ohne zu rechnen“ (S.269), gilt wegen seines Verhaltens als Idiot und erregt Ärgernis. In dieser Figur könnte aber auch zum Ausdruck kommen, welche „unabschätzbaren Möglichkeiten“ (S.307) des nicht selbstgenügsamen, sondern beziehungsorientierten Menschen in der Hand Gottes liegen.

„Dostojewski ist ein Menschenschöpfer von einer Größe, die man erst langsam ermißt.“ (S.266) – Romano Guardini zeigt in seinem Buch Wege, auf denen auch der heutige Leser diesem Dichter des Menschlichen durch konzentrierte Lektüre existentiell begegnen kann.

Matthias Grünewald Verlag, BRILL/ Ferdinand Schöningh, Ostfildern 8. Auflage 2021.

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