Theologische Predigt | Das Klare suchen, das Wahre tun, die Liebe leben (A. Delp)

Predigt: Prof. Dr. Ulrike Kostka

Die letzten zwei Wochen haben sicherlich viele von uns sehr bewegt. Die Coronazahlen steigen immer mehr an; wir fragen uns wohl alle, wann dieses Virus nicht mehr unser Leben prägt. In einem rasanten Tempo versucht die Politik, dem Virus hinterherzueilen und überschlägt sich mit ihren Maßnahmen und Diskussionen. Das ist oft verwirrend.

In unserer  Kirche überschlagen sich auch die Nachrichten. Erst die Veröffentlichung des Missbrauchsgutachtens in München, die befremdlichen Aussagen von Josef Ratzinger, dem Papst emeritus und dann die Aktion #Outinchurch. Vielleicht ging es Ihnen wie mir. Ich hatte davon vorher nichts gewusst und habe am Montag staunend und tief berührt in der ARD-Dokumentation gesehen, wie sich über 100 Kolleg*innen im kirchlichen Dienst als homosexuell, Trans- oder nicht binäre Personen outen. Ein einmaliger Schritt in unserer Kirche!

Alle diese Ereignisse kommen in so rascher Folge, dass man sich am Wochenende fragt, was ist alles passiert. Dazu kommen die weltpolitischen Ereignisse in der Ukraine und vieles mehr. Jeder von uns hat zudem noch seine eigenen Themen. Wo findet die Seele hier noch ihren Haltepunkt? Wie kann man all diese Ereignisse für sich einordnen und sortieren? Der Gottesdienst heute oder auch manch andere Form geben uns dazu die Gelegenheit. Anzuhalten, zu hören und zu spüren, was geschieht oder auch nicht.

In frommen Gebetskreisen wird oft am Anfang die Frage gestellt: Wo war Christus in eurem Leben in dieser Woche? Ich habe mich immer schon mit dieser Frage schwergetan. Denn eben noch im Alltagsgeschäft, gerade auf dem Stuhl angekommen, soll ich schon sagen können, wo Christus mir begegnet ist. Oft hat man sich dann schnell eine Antwort zusammengebastelt, um mitreden zu können und gläubig zu wirken.

Doch wo ist Christus in dieser Pandemie? Bei dem Thema Impfpflicht? Bei dem Missbrauchsgutachten? Bei den Ereignissen in Rom oder bei den queeren Menschen? Eine einfache Antwort wäre für mich hier frömmlerisch und oberflächlich.

Die heutigen Schrifttexte liefern dafür keine leichte Antwort. Jesus wird in seiner Heimat Nazareth nicht als Prophet erkannt und die Liebe steht über allem. Diese Kurzfassung der Schrifttexte ist sicherlich etwas gewagt. Aber vielleicht würden sie bei vielen von uns so in Erinnerung bleiben, wenn man nach dem Gottesdienst fragen würde.

Der Glauben eines Alfred Delp in Todesgefahr

Als ich die Schriftexte las und die Leitfrage der Guardini-Predigtreihe „Wo ist Christus?“ sah, kam mir der Jesuit Alfred Delp in den Sinn, der sich im Nationalsozialismus im Kreisauer Kreis engagierte. Er wurde nach seiner Tätigkeit bei der bekannten theologischen Zeitschrift „Stimmen der Zeit“ Gemeindepfarrer in München-Bogenhausen. Schließlich wurde er verhaftet und zum Tode verurteilt. Am 2. Februar 1945 wurde er in Plötzensee hingerichtet.

Bis zu seinem Tod hielt er an seinem Glauben und seinen Grundüberzeugungen fest. Seine Worte und Schriften sind von großer Weisheit gekennzeichnet und einem unendlichen Gottvertrauen. Er hat das Wort geprägt: „Das Klare suchen, das Wahre tun, die Liebe leben. Das wird uns gesund machen“ (A. Delp). Ich frage mich, wie er bei der permanenten Lebensgefahr im Widerstand und auch nach seinem Todesurteil diese Überzeugung haben konnte.

Er steht damit in einer Reihe mit Dietrich Bonhoeffer, Bernhard Lichtenberg und vielen Frauen und Männern mehr. Wie konnten diese Menschen so stark sein? Wie konnten sie in einer Zeit, die von menschlichen Gräueln und Vernichtung geprägt war, eine solche Haltung haben? Erst diese Woche haben wir uns an die Wannseekonferenz erinnert, wo die Vernichtung von vielen Millionen Menschen beschlossen wurde. Am Holocaust-Gedenktag am Donnerstag haben wir den Opfern der Shoa gedacht.

Wie werden wir auf die Coronazeit zurückschauen?

Alfred Delp sagte einmal: „Beim Studium der Geschichte macht mich immer wieder die Tatsache traurig, dass wir sie erst nachher studieren.“ Ich frage mich, wenn wir einmal auf die jetzige Zeit zurückschauen, was werden wir dann sehen? Stehen dann im Vordergrund diejenigen, die „Corona-Diktatur“ skandieren und sich als Opfer einer weltweiten Verschwörung sehen. Oder stehen die im Vordergrund, die jeden Tag ihren Dienst tun, Menschen im Krankenhaus oder Pflegeheim pflegen, in der Familie mit ihren Kindern versuchen, den Coronaalltag zu bewältigen, oder diejenigen, die um ihre wirtschaftliche Existenz bangen? Was bekommt in der Geschichtsschreibung mehr Gewicht? Die Skandierer oder die anderen?

Unsere Gesellschaft muss gerade einiges aushalten. Es knirscht im gesellschaftlichen Gebälk und es gab schon bessere Zeiten des Zusammenhalts. Nicht umsonst hat die Deutsche Caritas in ihrem 125. Jahr seit ihrer Gründung das Thema „gesellschaftlicher Zusammenhalt – das machen wir gemeinsam“ zum Motto gemacht.

Spannungen aushalten

Wir müssen Spannungen aushalten. Die Liebe leben, sagt die  Lesung. Das fällt schwer, wenn man die 85zigste Diskussion über die Impfung führt oder ob die Politik richtig entscheidet. Wahrscheinlich geht es jetzt darum, auch mal Auszuhalten, wenn man nicht einer Meinung ist.

Auch in der Katholischen Kirche nehmen die Spannungen zu. Wirkliche Veränderung ist notwendig, die Zeiten des Machtdurchgriffs sind vorbei. Wir müssen lernen, zu streiten, zu diskutieren und unterschiedliche Positionen auszuhalten. Und Verantwortung heißt jetzt, Macht loszulassen, schonungslose Aufklärung zu betreiben und die Kirche von Grund auf gemeinsam zu erneuern!

Das Wahre tun – eine Kirche ohne Angst

Die 125 queeren Kolleg*innen im kirchlichen Dienst haben das Wahre nach Alfred Delp getan. Sie haben gesagt: So geht es nicht weiter – wir wollen eine Kirche ohne Angst.

Und ehrlich gesagt: Was können unterschiedliche Lebensformen und sexuelle Orientierungen der katholischen Kirche antun? Weder die sakramentale Ehe, die wir alle schätzen, wird dadurch gefährdet, noch der Glaube grundsätzlich.

Sondern im Gegenteil! Die Dokumentation in der ARD trug den Titel „Wie Gott uns schuf“ – eine wahre und große theologische Aussage. Die Kolleg*innen wollen nur angstfrei ihr Leben leben und sich in der Kirche engagieren und arbeiten. Sie wollen so sein können, wie sie sind. Ist das nicht eigentlich wunderbar? Welchen Schatz würde die Kirche gewinnen, wenn sie queere Menschen und alle, die nicht lehramtlichen katholischen Normen entsprechen, so betrachtet und nicht mehr ausgrenzt werden – auch als Mitarbeitende und Leitungskräfte.

Wir haben bewusst als Caritas im Erzbistum für die Unterstützung der Kolleg*innen und ihrer Aktion die Überschrift gewählt „Liebe kennt keine Ausgrenzung“. Bei uns ist jeder willkommen!

Das Klare suchen!

Es ist nicht leicht, in diesem ganzen Wirrwarr der Ereignisse den roten Faden für sich zu finden. Erst recht fällt es uns als ganze Gesellschaft schwer. Aber ich finde, wir können uns vom Mut eines Alfred Delp, einer Sophie Scholl anstecken lassen. Sie haben versucht, das Klare zu suchen.

Wir sollten klar zu unseren Haltungen stehen, sie aber auch hinterfragen lassen. Nicht jeder ist gleich ein Impfgegner, nicht jede, die die Impfpflicht fordert, ist gleich jemand, die die Freiheit einschränken will. Politikerinnen und Politiker versuchen, das Beste zu tun, was ihnen möglich ist. Sie sind auch oft überfordert und wissen nicht weiter. Das sollten sie vielleicht auch zugeben. Außerdem sind auch sie müde – wie viele von uns nach zwei Jahren Pandemie. Die Liebe leben heißt vielleicht, auch mal die Lästigen zu ertragen und auch mal Fünfe gerade sein zu lassen.

Wo ist Christus in dem Ganzen? Ich habe Ihnen keine schnelle Antwort gegeben und kann es auch nicht. Meine Zuversicht ist aber, dass uns Gott mit der Liebe beschenkt, die uns zur Liebe des Nächsten und des Anderen befähigt.

Das Klare suchen, das Wahre tun und die Liebe leben! Das ist doch ein wunderbares Motto für die kommende Zeit und auch ein guter Orientierungspunkt für uns selbst, unsere Kirche und die ganze Gesellschaft.

Foto & Grafikdesign Anja Matzker

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