Guardini akut | Erschöpft

Guardini akut | KW 35/2020

Erschöpft

Von Thomas Sojer

„Der Rhythmus verlängert die Dauer der Anstrengung, schiebt die Müdigkeit hinaus; könnte sie im äußersten Falle verschwinden lassen? Quelle der körperlichen Energie; wie? Doch zunächst, WODURCH WIRD DER RHYTHMUS BESTIMMT? Er wird nicht durch die Regelmäßigkeit bestimmt. Das Ticken einer Uhr hat keinen Rhythmus. Er wird durch die Stillstände bestimmt […] Der Rhythmus als metaksi. Berührungspunkt zwischen dem nicht existierenden Wirklichen und dem Werden. Etwas Wahrnehmbares, dessen Wirklichkeit nichts als Verbindung ist.“ (Simone Weil, Aufzeichnungen, 1. Band, Hanser 2017, 305-306)

Deutschland – Corona, 1:0, im leeren Stadion? Und auch hier gilt: Nach dem Spiel ist vor dem Spiel. Und dazwischen? Dazwischen regiert der Ausnahmezustand. Die Anstrengung. Und was bestimmt die Rahmung um die Anstrengung herum, dieses Nach der Ausnahme, das nicht mehr zum Normal des Vorher zurückkehren kann (bzw. will) und in ein neues Vor der neuen Anstrengung umzuschlagen droht? Was macht den Zwischenraum der Anstrengung zum Taktschlag und eicht unseren Alltag auf Ausnahme? Es ist die Müdigkeit, wie Simone Weil schreibt. Müdigkeit, die gegen alle Entspannungsstrategien immun geworden ist.

Die französische Philosophin meint hier nicht einfach Erschöpfung vom Zurückgelegten, sondern eine wissende Müdigkeit, die ahnt, dass jedes Danach ein neues Davor ist. Seit Corona die Welt im Zauberbann hält, kennen wir dieses böse Versprechen nur zu gut, das uns lähmt und trotz Urlaub und Entschleunigung müde zurücklässt. Wir befinden uns im Uhrschlag der Krise, doch fehlt uns das Zeitgefühl für sie. Ihr Pendelschlag bleibt unenträtselbar, selbst die Richtung des Pendels bleibt manchmal uneindeutig. Getrieben vom Ticken haben wir verlernt, die Schläge zu zählen. Der zeitliche Spalt zwischen Inkubation und Testergebnis bleibt uneinholbar, egal wie flächendeckend wir testen, weil wir selbst das Virus sind, und unsere Körper immer hauchdünn schneller als die Messgeräte, die wir gegen uns halten. Simone Weil sorgt sich um die Virulenz wissender fatigue und ihre Folgekrankheit, das ressentiment. Ihr philosophisches Werk kartographiert dazu die gewaltstiftenden und autonomiezersetzenden Risiken arhythmisierter Gesellschaften und entlarvt einen perfiden Machtmechanismus verborgener Fädenzieher, die Ausbeutung, Faschismus und Fundamentalismus naturalisieren.

Quoi faire ?, fragt sie ihre Leserinnen und legt schon in ihre Frage, dass ein eigentliches Problem der Krisen in der Beschleunigung allen Tuns liegt. Das Antidot gegen die bedrohlichen Monotonisierungen findet sie in einem Impuls, der vom Nullpunkt, vom entzogenen Stillstand her, eine neue Bewegung im Körper initiiert, die jenseits dressierender Taktung sprichwörtlich aus dem Nichts kommt. Diesen Nullpunkt setzt Simone Weil als Berührungspunkt zwischen dem nicht existierenden Wirklichen und dem Werden, und nennt ihn reine Relationalität. Um uns nun den Puls einer derart radikalisierten Selbst-Welt-Beziehung anzuverwandeln, brauchen unsere Körper die Haltung der attention, ein Wort, das Weil im Französischen semantisch zwischen Aufmerksamkeit und Warten oszillieren lässt. Attention ist jedoch nicht herstellbar, weder durch Bemühen noch durch spezifische Umstände. Sie bleibt Geschenk, das uns ohne unser Zutun eine wahrnehmende Geste vollziehen lässt, die sich im Verzicht auf Tun, dem effort négatif als action non agissante im Körper ereignet. In diesem renoncement créatif nichthandelnden Handelns verleiblicht der Körper dann den Null- und Berührungspunkt, wird selbst zum metaksi, dem erkennenden Zwischen, zwischen dem nicht existierenden Wirklichen und dem Werden.

Nun, was hilft Weils somatische Philosophie, wenn sie sich jeder praktischen Steuerung entzieht? Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch! Das Unheil erschöpfender Müdigkeit birgt die Chance, in der Erschöpfung der Entschöpfung Gottes zu begegnen, in der fatigue die décréation des nicht existierenden Wirklichen zu berühren. Weil findet diese hochtrabende Mystik im alltäglichen Erlebnis von Rhythmus, dem Widerfahrnis verleiblichter Zeitlichkeit, wenn sich der eigene Kontrollwille entschafft und sich der Körper dem inneren Fluss hingibt, dessen Quelle und Puls im Nichts entspringt.

Was können wir für den bevorstehenden Corona-Herbst von Simone Weil nun lernen? Der Schlagabtausch von Anstrengung und Entspannung wird zum Hamsterrad der fatigue. Erschöpfung birgt jedoch die unverfügbare Möglichkeit, dass wir sie uns als Entschöpfung anverwandeln, nämlich dann, wenn etwas, ein Schicksalsschlag, ein Wort eines lieben Menschen, eine zärtliche Berührung – Simone Weil nennt all dies den Durchbruch der Gnade – unseren Körper für einen Augenblick aus der Dressur des Taktes befreit und ihm erlaubt Berührungspunkt zu werden, zwischen dem Impuls des nicht existierenden Wirklichen und dem pulsierenden Werden. Es ist die Hoffnung, schöpferischen Rhythmus zu spüren, und eine Freiheit jenseits des Pendelschlags aus Anstrengung und Entspannung.


Thomas Sojer promoviert am Max-Weber-Kolleg in Erfurt mit einer philosophischen Arbeit über Simone Weils Denkwege durch das Neue Testament. 2019 hat er gemeinsam mit Prof. Martina Bengert (HU Berlin) und Max Walther (Bauhaus Universität Weimar) das trans | disziplin Simone Weil denkkollektiv ins Leben gerufen. Als Fellow am Titus Brandsma Institut an der Universität Nijmegen forscht und publiziert an der Schnittstelle von Performancekunst, Mystik und französischer Religionsphilosophie.

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