Guardini akut | Immunität und Gemeinschaft in Corona-Zeiten

Guardini akut | KW 21/2020

Immunität und Gemeinschaft in Corona-Zeiten

Eine Reflexion im Anschluss an Roberto Esposito und Isabell Lorey
Von Ulrich Engel OP

Angesichts der noch zu erwartenden Dauer der Corona-Pandemie wird auch in Deutschland zunehmend kontroverser über die Frage diskutiert, ob der immunologisch begründete Shutdown einer ganzen Gesellschaft zugunsten ihrer besonders vulnerablen Mitglieder (Risikogruppen) nicht in unsolidarischer Weise, weil über Gebühr, die Gemeinschaft insgesamt (bes. das Wirtschaftssystem, aber auch die verfassten Freiheitsrechte) in Mitleidenschaft zieht.

In Anbetracht dieser Debattenlage lohnt ein Blick in das Werk des italienischen Philosophen Roberto Esposito. Esposito interessiert sich vor allem für die Beziehung zwischen dem politischen Begriff der Gemeinschaft und dem biomedizinischen Begriff der Immunität. Beiden hat er lange vor der Pandemie je eine Monographie gewidmet: „Communitas“ (Torino 1998, Berlin 2004) und „Immunitas“ (Torino 2002, Berlin 2004).

Die zwei lateinischen Substantive communitas und immunitas verdanken sich der selben Wurzel: munus. Dabei hatte das Wort munus (pl.: munera) im antiken römischen Recht zwei Bedeutungen. Darauf weist die in Köln lehrende Politikwissenschaftlerin Isabell Lorey in ihrem lesenswerten Buch „Figuren des Immunen“ (Zürich 2011) hin: Gemeint ist zum einen eine Pflicht im Sinne eines Amtes, einer Abgabe oder eines Geschenks. Eigenes muss geteilt werden. Oft waren es finanzielle munera – z. B. Steuern –, die man zu zahlen hatte. Zum anderen konnotiert die Begriffsfamilie des munus auch Bedeutungen des Schützens und Absicherns.

Beide Wortfelder – das der Pflicht zum Geben/Teilen und das des Schützens – beziehen sich jedoch nicht allein auf das einzelne Subjekt. Vielmehr ist die communitas als ganze im Sinne des lateinischen Präfix cum- (= mit) eine Mit-munus-Gemeinschaft. Was heißt das? Gemäß der ersten Bedeutung des munuszeigt sich das Gemeinsame auf paradoxe Weise im Teilen. Denn eine communitas setzt sich aus Personen zusammen, die nicht durch eine allen gleichermaßen zuzuschreibende Eigenschaft (z. B. Ethnie, Nationalität) oder einen gemeinsamen Besitz verbunden sind, sondern durch dauerhaftes Ab-/Geben. Vereint sind sie durch einen gemeinsam geteilten Mangel an Identität oder Eigentum. In der zweiten Bedeutungslinie wird kommunitärer Zusammenhalt – vollkommen konträr zum ersten – durch den Schutz des Eigenen hergestellt, etwa indem gemeinsame Besitztümer gegen Gefahren von außen abgesichert werden.

Beide Bedeutungsvarianten bedingen einander.

Das Wort immunitas – Komplementärbegriff zu communitas und Antipode in der aktuellen gesellschaftlichen Debatte – ist mithilfe der Vorsilbe in- (= Negation) als Verneinung von munus gebildet: Nicht-munus. Nach römischem Recht galt die Immunität als Privileg. Sie befreite eine Person von den Verpflichtungen, denen sie eigentlich unterworfen war – und zwar auf zwei mögliche Weisen: Im Sinne des Schutzes der eigenen Interessen oder des eigenen Besitzes führte die juridische Immunität zur Herausnahme einzelner Privilegierter aus der Gemeinschaft derer, die über gemeinsam geteilte Pflichten miteinander verbunden sind. Immunität schützt vor den bedrohlichen Zumutungen des Teilens. Die durch Absonderung von Immunisierten werden sie auf diese Weise zu unverwundbaren Nicht-teilenden, kurz: zu In-dividuen. Im Modus des Teilens funktioniert die biomedizinische Immunität exakt anders herum. Analog zur Impfung, bei der der Erreger selbst genutzt wird, um ihn unschädlich zu machen, nimmt eine teilende Immunisierung die vulnerablen Mitglieder der Gesellschaft bewusst in ihre Gemeinschaft herein.

Die heute (und wahrscheinlich auf lange Zeit noch) angesagte Präventivtechnologie des Social distancing folgt unzweifelhaft und prioritär der schützendenImmunisierungsstrategie: durch Herausnahme der vom Virus Infizierten und an Covid-19 Erkrankten aus der Gemeinschaft. Leisten können sich das allerdings nur diejenigen, die insofern privilegiert sind, als dass sie überhaupt auf Rückzugsorte zurückgreifen können. Obdachlosen in São Paulo, Wanderarbeiter*innen in Mumbai und Kindern in prekären Familienverhältnissen in Berlin wie auch Klinikärzt*innen und Pflegekräften weltweit ist das Privileg der Immunität im Sinne der Möglichkeit eines hinreichenden Social distancing kaum gegeben.

Damit Social distancing und Shutdown nicht Ausdruck kollektiver Egoismen eines privilegierten Besitzindividualismus werden, mit denen man bloß die eigene Haut zu retten trachtet, gilt es die immunitas immer auch im Sinne des Teilens und der Hereinnahme zu leben. Dann haben wir es mit einer sozialen Praktik zu tun, die trotz aller notwendigen Sicherungsmaßnahmen als eine spezifische Weise biopolitischer Solidarität daherkommt. Denn dann dient die immunisierende Herausnahme-Strategie dem Ganzen. So – und nur so! – kann auch in pandemischen Zeiten Gemeinschaft gelebt werden: als sog. „sorgende Gemeinschaft“ (SZ v. 30.4./1.5.2020), die Risiken verantwortungsbewusst teilt und damit ihre vulnerablen Mitglieder in ihr Kalkül und in ihre communitas hereinnimmt.


Prof. P. Dr. Ulrich Engel OP ist Mitglied des Dominikanerordens. Er ist Direktor des Institut M.-Dominique Chenu Berlin und als Professor für Philosophisch-theologische Grenzfragen an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Münster tätig. Zudem engagiert er sich für die Gründung eines Campus für Theologie und Spiritualität Berlin in Trägerschaft von Orden und Geistlichen Gemeinschaften. Er zeichnet verantwortlich als Chefredakteur der Zeitschrift „Wort und Antwort“ und ist Mitglied des Präsidiums der Guardini Stiftung.

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