Guardini akut | Die Zukunft von Stadt und Land nach Corona

Guardini akut | KW 43 bis 44/2021

Die Zukunft von Stadt und Land nach Corona 

Krisen verändern die Stadt. Und sie beeinflussen unsere Vorstellung von Stadt, aber auch den Prozess, wie Städte geplant und gebaut werden.
Von Jürgen Tietz

Die vielbeschworene „neue Normalität“ wird es nicht geben, denn die Zukunft hat ihren Kurs geändert. Was können wir aus Corona- und Klimakrise für einen „Städtebau für Menschen“ lernen? Wie lassen sich unsere Städte widerstandsfähiger, krisenfester und lebenswerter gestalten?
Auf jeden Fall brauchen sie mehr Luft zum Atmen.

Städte müssen für künftige Pandemien vorbereitet werden. Sie sind den wandelnden Herausforderungen anzupassen, insbesondere denen des Klimawandels. Dabei ist es zentral zu beachten, dass sie künftig ihre Aufenthaltsqualität für alle unterschiedlichen Interessensgruppen bewahren, die an einem Funktionieren des komplexen Systems Stadt beteiligt sind. Das bedeutet inklusive Freiräume zu schaffen, die auf die Bedürfnisse von Bewohnern in den Quartieren vor Ort reagieren und zugleich offen und erreichbar für andere Interessensgruppen sind.

Das Konzept der Stadtlandschaft bietet dafür eine Lösung. Die Idee der Stadtlandschaft geht auf den Architekten Hans Scharoun zurück, einen der bedeutenden Architekten der Moderne im 20. Jahrhundert. Sie war für ihn „ein Gestaltungsprinzip, um der Großsiedlung Herr zu werden. Durch sie ist es möglich, Unüberschaubares, Maßstabloses in übersehbare und maßvolle Teile aufzugliedern und diese Teile so zueinander zu ordnen, wie Wald, Wiese, Berg und See in einer schönen Landschaft zusammenwirken. So also, dass das Maß dem Sinn und dem Wert der Teile entspricht und so, dass aus Natur und Gebäuden aus Niedrigem und Hohem, Engem und Weitem eine lebendige Ordnung wird.“

Dieser organische, dem Naturverständnis und der jeweiligen Topographie des Ortes abgelauschte grüne Stadtbegriff lag sowohl Scharouns einzelnen Bauten aber auch seinem städtebaulichen Konzept insgesamt zu Grunde, wie er es für den Wiederaufbau Berlins nach 1945 formulierte. Doch ausgerechnet in Berlin wurden Scharouns Gedanken seit den 1970er Jahren durch die Vertreter des postmodernen Städtebaus vehement abgelehnt und beispielsweise die Fertigstellung des Kulturforums mit Philharmonie und Staatsbibliothek nach seinem Konzept verworfen.

Die Wiederbelebung der Idee einer Stadtlandschaft kann dazu beitragen, Städte widerstandsfähiger gegenüber Pandemien und den Folgen des Klimawandels zu machen. Stadtlandschaften holen nicht nur einfach das Grün in die steinerne Stadt zurück. Mit ihren organisch aufgeweiteten und naturnah modellierten Stadträumen entstehen selbst auf vergleichsweise kleinen Flächen Orte mit hoher Aufenthaltsqualität. Sie ergänzen die vorhandene Bebauung und lockern die vorherrschende starre Trennung von Innen- und Außenraum zumal in den Erdgeschosszonen auf, zugunsten einer räumlichen Durchdringung. Solche kleinteiligen Parks und Grünflächen bieten einen öffentlich zugänglichen temporären Aufenthaltsort im Grünen, dienen als kleine Frischluftoasen und erhöhen so die urbane Lebensqualität insgesamt.

Eine besondere Herausforderung ist es, eine Balance zwischen der Qualifizierung eines solchen neuen Parks und seiner potenziellen Übernutzung zu erzielen. Ein Beispiel dafür ist der großartige Erfolg der New York High-Line. Die grüne Transformation der ehemaligen Hochbahnstrecke hat allerdings nicht nur internationale Nachfolger gefunden, sondern zugleich entscheidend zur Gentrifizierung des Quartiers beigetragen. Solche Wechselwirkungen erscheinen durch die Stadtentwicklung nur begrenzt steuerbar. Diese Steuerung deshalb aus vorauseilendem Gehorsam gleich ganz zu unterlassen, wäre jedoch sträflich. Eine mögliche Lösung ist es, durch genossenschaftlichen oder öffentlichen Wohnungsbau eine soziale Durchmischung in diesen Quartieren zu stärken. Vor allem aber hilft es, die Idee einer Stadtlandschaft nicht nur punktuell umzusetzen.

Städte sind in einem permanenten Veränderungsprozess begriffen. Folgt man Richard Sennetts Gedanken, die er in seinem Buch „Die offene Stadt“ formuliert hat, dann ist es unverzichtbar, gleichzeitig auf den einzelnen Park, das einzelne Haus, die einzelne Straße, das gesamte Quartier und die ganze Stadt zu schauen. Ja, der Blick muss noch weiterwandern. So wie es Hans Scharoun für seine frühesten Berliner Nachkriegsplanungen tat, müssen die Grenze von Stadt und Umland ausgeblendet werden. Für die Stadt der Zukunft sind Stadt und Land in ihren Wechselwirkungen als großräumliche Einheit zu begreifen. Der Organismus der Stadt endet nicht schlagartig an ihrer politischen Grenze, sondern wirkt über ihren „Speckgürtel“ und den urban sprawl hinaus weiter ins Land.

Gemeinsam untersuchen die Architektin und Stadtplanerin Prof. Christa Reicher und der Architekturjournalist Dr. Jürgen Tietz die Folgen von Coronapandemie und Klimawandel für Stadt und Land in ihrem Buch „Atmende Städte“, das 2022 im Springer-Verlag erscheint.

Grafikdesign Anja Matzker


Jürgen Tietz ist Publizist und Autor zu den Themen Architektur und Denkmalpflege. Unter anderem ist er Stellvertretender Vorsitzender des Hochhausbeirates der Stadt Düsseldorf, Mitglied des Gestaltungsbeirates der Stadt Fulda und Mitglied des Deutschen Nationalkomitees für Denkmalschutz. 

Christa Reicher ist Professorin und Leiterin des Lehrstuhls und Instituts für Städtebau an der Fakultät für Architektur der RWTH Aachen. Sie ist außerdem Gründerin eines Planungsbüros mit Sitz in Aachen und Dortmund.

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