Guardini akut | KW 3/2021
Die apokalyptischen Reiter
Die Coronapandmie stellt uns nicht nur als Menschen, sondern auch als Christen auf die Probe. Sind die vier apokalyptischen Reiter bereits unter uns? Und was heißt eigentlich „Apokalypse“?
Von Helmut Zenz
Am 27. Januar 1960 notierte der Religionsphilosoph und Theologe Romano Guardini folgende Einsicht in sein Tagebuch:
„Die apokalyptischen Reiter:
Die große Zahl
Die perfekte Technik
Die absolute Wohlfahrt
Die Geschlossenheit der ‚Welt‘.“
Gerade in der aktuellen Coronakrise bildet diese Liste die prophetische Deutung der biblischen Vorlage aus der Johannesoffenbarung für die „Nach-Neuzeit“. Hineingesprochen in das „Zeitalter der Industrialisierung“, das für Guardini um die Wende vom 19. auf das 20. Jahrhundert das „Ende der Neuzeit“ einläutete, ist diese Deutung auch gültig für das 21. Jahrhundert, das „Zeitalter der Digitalisierung“. Dabei geht es weder in der Offenbarung des Johannes – wie man heute bar jeglicher frühchristlicher oder milleniumsbedingter „Naherwartung“ weiß – und noch weniger in Romano Guardinis „Ende der Neuzeit“ um Anzeichen eines „Weltuntergangs“, sondern wie wir in jeder kirchenjährlichen Advents- und Weihnachtsrunde hören können, um das „Maranatha“, um das „Komm, Herr Jesus“, um die Wiederkunft des Herrn für diejenigen, die die „Zeichen der Zeit“, die „apokalyptischen Reiter“ richtig deuten können. Wann das endgültige „Ende der Welt“, das „Ende von Zeit und Raum“, kommen wird, wissen wir nicht, aber es braucht eine Rückkehr des Bewusstseins der „Metanoia“; oder wie Guardini es 1958 in seinem „Brief zum Weihnachtsfest“ an „DIE ZEIT“ (Nr. 52/1958) unter dem Titel „Siehe, ich mache alles neu“ geschrieben hat: ein Bewusstsein der „Umsinnung“, des „Umwerdens von der Mitte her“:
„Der Ewig-Lebendige tritt selbst, personal, über die Grenze alles Daseins herüber und ist nun ‚bei uns‘. Davon – und nur davon – spricht Weihnachten. […] Sein Eigentliches ist die Vergegenwärtigung der Tatsache, daß von nun an der Sohn Gottes in der Geschichte steht und zur alles entscheidenden Begegnung an jeden herantritt, der Ihm ‚die Tür öffnet‘. Er wird nie alt; denn Altern ist Zeithaftigkeit, Er aber ist ewig. Er erschöpft sich nie, denn Er ist unendlich und gibt so viel, als der Mensch zu verlangen und zu erfassen vermag. Wenn Sie von hierher das Neue Testament betrachten, dann sehen Sie, es ist eine einzige große Botschaft von dem Neuen, das durch den Gekommenen aufgetan wird, […] Die Schrift spricht im Grunde von nichts anderem, als davon, wie alles Alte in diesem Neuen überwunden wird. Dieses selbst aber bleibt immer neu, weil es immer aus der Freiheit Gottes hertritt. Nie wird es, wie ein Antrieb der Geschichte durch deren späteren Fortgang, oder ein individuelles Erlebnis durch die folgende Entwicklung, ins Alte eingesogen, sondern steht zu jeder Zeit, jedem Menschen und jedem natürlichen Erleben quer und verlangt die ‚Metanoia‘, die Umsinnung, das Umwerden von der Mitte her.“
Die Notwendigkeit einer sich immer wieder aktualisierenden Bewusstwerdung des prophetischen, fortdauernden Weihnachtsgeheimnisses wird durch das Auftreten der apokalyptischen Reiter in der Johannesoffenbarung vorweggenommen und von Guardini mit den vier Umschreibungen für uns Heutige nachvollziehbar aktualisiert. Vielleicht wird man diese vier Aspekte in Zukunft begrifflich noch einmal anders fassen oder verständlicher „übersetzen“, aber das von Guardini Gemeinte bleibt gegenwärtig und gültig.
Schon die Texte der Johannesoffenbarung knüpfen an die synoptische Erzählung von der dreifachen Versuchung Jesu durch den Satan an und ermahnen, sich in der Wüste der Welt nicht von den „Strukturen des Bösen“ versuchen zu lassen.
Weder von der Illusion, dass „aus Steinen Brot werden“ könne für die Massen an Hungrigen. Der Preis dafür wäre zu hoch angesichts des Verlustes der Ewigkeit. Denn „der Mensch lebt nicht nur von Brot, sondern von jedem Wort, das aus Gottes Mund kommt“. „Die große Zahl“ verführt zwar immer zu Allmachtsfantasien und bringt aufgrund der stets bleibenden Knappheit doch nur jene Formen einer globalen Verbrechenswelle mit sich, wie wir sie aktuell von Interpol als „Parallelpandemie des Verbrechens“ durch die gut vorbereitete organisierte Kriminalität angekündigt bekommen: Diebstähle und Lagereinbrüche, Überfälle auf Impfstofftransporte, Korruption, um schneller an den wertvollen „Stoff“, das „flüssige Gold 2021“ zu kommen.
Auch nicht von der Illusion, über alle Reiche der Welt „Macht und Herrlichkeit“ ausüben zu können. Der Preis dafür wäre zu hoch angesichts des Verlustes der Ewigkeit. Denn nur „vor dem Herrn, deinem Gott, sollst du dich niederwerfen und ihm allein dienen“. „Die perfekte Technik“ verführt dagegen immer wieder zu Allmachtsfantasien. Auch wenn jetzt erste Impfstoffe gegen das Coronavirus da sind, handelt es sich dabei um keine perfekte Technik, um keine Wunderwaffe, weder um Wahlen oder um Kriege damit zu gewinnen, die schon vorher verloren waren, weil sie immer noch – trotz aller Katastrophen der vergangenen Jahrzehnte – von einem rein innerweltlichen Fortschrittsglauben als Ersatzreligion zehren.
Noch von der Illusion, ein Menschenleben – und sei es das eigene – riskieren zu können, weil Gott ja seinen Engeln ohnehin befehlen werde, es zu behüten. Der Preis dafür wäre zu hoch angesichts des Verlustes der Ewigkeit: Denn „du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht auf die Probe stellen“. „Die absolute Wohlfahrt“ verführt auch hier zu Allmachtsfantasien. Aber nein! Auch zukünftige Viren aller Art werden nicht halt machen vor diesen künstlich angelegten „Teilzeit-Paradiesen auf Erden“. Wie Jesus es bereits selbst am eigenen Leib erfahren hat: Der Irrglaube, dass der Mensch für das ideologisierte Gesetz da sei, wird noch viele unschuldigen Menschen das irdische Leben kosten. Oder wie Karl Popper es ausdrückte: „Der Versuch, den Himmel auf Erden zu verwirklichen, produziert stets die Hölle.“ Genau diese Höllen sind aber gottseidank gleichzeitig der Garant dafür, dass sich mutige Menschen weiter gegen die dahinterstehenden Ideologien auflehnen werden.
Wer sich nicht gegen diese drei apokalyptischen Versuchungen auflehnt, sondern ihnen erliegt, wird den vierten Reiter heraufbeschwören: „Die Geschlossenheit der ‚Welt'“ oder die Allmachtsfantasie, eine Welt ohne Gott, also ohne die Verbindung der einzelnen und einzigartigen Personen mit einem lebendig-konkreten Gott aufrechterhalten zu können. Mag der Satan mit seinen Strukturen des Bösen noch so viele Menschen mit dem Virus dieses Irrglaubens „infizieren“: Die Wahrheit und die Liebe siegen immer im Glück jeder Seele, die dem einzigen, echten Heilbringer die Tür öffnet – schon im Hier und Jetzt; vollendet aber am wirklichen Ende der Welt, der Zeit und des Raums, wann immer dieses auch kommen mag. Der Herr kommt schon jetzt zu all jenen, die ihn bitten: Marantha! Komm, Herr Jesus.
Helmut Zenz ist Theologe und Politikwissenschaftler. Er forscht schwerpunktmäßig zur christlichen Gesellschaftslehre und befasst sich vor allem mit Romano Guardini. Von 1998 bis 2003 war er Religionslehrer i.K. an Grund- und Hauptschulen, 2003 bis 2017 Jugendbildungsreferent, Erzieher und Einrichtungsleiter in verschiedenen Einrichtungen der Salesianer Don Boscos. Er ist Mitglied in der Historischen Kommission des diözesanen Seligsprechungsverfahrens für Romano Guardini.