Theologische Predigt | Das Kunstwerk schaut uns an

25. April 2020 | Theologische Predigtreihe „Wo ist Christus?“

Das Kunstwerk schaut uns an

Predigt: Dr. Yvonne Dohna Schlobitten (Päpstliche Universität Gregoriana, Rom)

Der Gottesdienst, innerhalb dessen diese Predigt gehalten werden sollte, ist augrund der Coronapandemie leider ausgefallen. Die von Yovnne Dohna Schlobitten eingelesene Predigt können Sie hier herunterladen.

„Nein, wir können nicht aus uns heraus“, schreibt Guardini. „Er muß kommen, der befreiende Gott“. Das Geheimnis, wie Gott auf uns zukommt, die Innerlichkeit dieses Erkenntnisprozesses, davon spricht die Begegnung in Joh 21,1-14.
Die Jünger sind, nachdem Jesus bei ihnen war, sie begleitete, sie in ein neues Leben hineingeführt hatte, wieder allein. Genauso geheimnisvoll wie er gekommen war, ist er auch wieder gegangen. Nur für einen Moment, nur für eine kurze Zeit war er bei ihnen.
Wir kennen dieses Gefühl, wenn wir wieder alleine sind. Nach einer Zeit der Gewissheit und des Schutzes uns allein gelassen fühlen, weil wir nicht verstehen, warum plötzlich eine Leere da ist, die alle Hoffnung zu nehmen scheint. Die Leere könnte Fülle sein, aber dafür müssen wir Raum geben. Nur wie? Der Mensch steht an der Schwelle zwischen dem vermeintlichen gefühlten Verlassen-Sein von Gott und dem ihm gegebenen Versprechen.
Die Jünger fallen zurück in ihre alten Gewohnheiten, so lesen wir im Johannesevangelium. Die größte Resignation liegt in den Worten von Simon Petrus „Ich gehe fischen“. Die anderen folgen ihm. Sie gehen ihrem alten Weg nach, als wenn nichts geschehen wäre, als wenn Jesus nie da gewesen wäre, sie nie belehrt, sie nie berührt hätte. Ist alles vergessen? Sie tun wieder das, was sie vor der Begegnung mit ihm getan hatten. „Aber in dieser Nacht fingen sie nichts“. Es ist eine doppelte Enttäuschung, jetzt gelingt ihnen nicht einmal mehr das, was sie einmal konnten, als hätte das, was sie tun, die Haltung mit der sie es tun, keinen Sinn mehr und kann deshalb keine Früchte tragen.
Jesus kommt auf sie zu. Wir werden sehen, dass es Jesus nicht um die Kunst des Fischens, nicht um die Kunst des Netzauswerfens, sondern dass es ihm um etwas Anderes geht: Er stellt ihnen eine Aufgabe, die viel mehr erfordert: das Sehen in Erkennen zu wandeln. Jesus zwingt sie mit seiner Bitte in ein erneutes Tun, in ein kreatives Tun, in einen Liebes-Akt hinein.
Es gibt in unserer heutigen Zeit viel Aktivismus, auf jeder Ebene, sogar Fluten an Artikeln und Talk-Shows, die versuchen, das aktuelle Problem zu betrachten, aber es gibt wenige, die diesen Prozess vom Sehen zum Erkennen, wie es im Evangelium beschrieben ist, gehen möchten oder können.
Die Einübung des Blicks steht im Mittelpunkt von Guardinis theologischem Denken, ein Blick, der zunächst nicht an der Bibel geschult ist, sondern von ihm am Wesen des Kunstwerkes erkannt wurde. Aus der Kunstanschauung entwickelt Guardini später eine Bibelanschauung und dann eine Liturgieanschauung bis hin zur Weltanschauung. Ich möchte versuchen, diesen Blick, den Guardini aus der Kunstanschauung gewonnen hat, auf unser Thema der Gottesbegegnung anzuwenden und so wage ich zu fragen: Ist für Guardini der Erkennungsprozess der Jünger nicht analog zum Erkennungsprozess des Schaffens eines Kunstwerkes?
„Zum Sehen geboren und zum Schauen bestellt“, so zitiert Guardini Goethe. Guardini erklärt es dann noch deutlicher: „Vor Gott ein Spiel zu treiben, ein Werk der Kunst – nicht zu schaffen, sondern zu sein, das ist das innerste Wesen der Liturgie“. Dieses Werden, der innere Wandlungsprozess ist, so Guardini, „Arbeit“ und „er ist schwer und zuweilen schmerzhaft“. Aber für Guardini wird er zur Methode.
In seinem allerersten Buch überhaupt, über die Briefe und Gedichte Michelangelos, beschreibt Guardini diesen Vorgang eindringlich, einen Vorgang, der mit Michelangelos „Unfähigkeit zu lieben“ beginnt, mit seinem kreativen Schaffen überwunden und über eine ‚Dingwerdung‘, zu einer ‚Verheißung‘ führen wird. Bereits Augustinus und dann Bonaventura zeigen, dass „das Schaffen, Gestalten, Formfinden, das Wort und überhaupt die Kunst Durchleuchtungsvorgänge sind“, eine „Durchsichtigmachung des Stoffes für das Innere“. Doch sind wir heute nicht immer eingeübt die Welt so anzuschauen, so zu denken und so zu handeln.
Guardini schreibt: „Es ist gut, dass die wichtigen Dinge nicht jedermanns Dinge sind, sondern von der Begabung des Auges, der Kraft des Geistes und der Lebendigkeit des Herzens bestimmt sind.“ Aber wir alle sind dazu berufen“.
Folgen wir Guardinis Kunstanschauung und ihrer Methode und wenden sie auf die Bibelstelle an, erscheinen die Jünger als Schaffende, das wahre Fischen als Werk. Er öffnet damit den Blick auf uns Selbst. Dieser dreifache Blick, den Guardini aus der Kunst entwickelt hat, könnten wir auch im Fischfang nachvollziehen.

1. Vertrauen
Jesus ist anders, als wir ihn uns zu gerne vorstellen. Das Evangelium berichtet davon: Am nächsten Morgen sahen sie einen Mann am Ufer. „Doch die Jünger wussten nicht, dass es Jesus war.“  Es ist ein Fremder, der sie um etwas bittet. Er hat Hunger. Sie sagen, sie haben nichts gefangen – sie können ihm nicht helfen –, doch er fordert sie auf, es noch einmal zu probieren. Warum sollten sie auf einen Fremden hören, wenn sie es doch besser wissen? Aber sie gehorchen ihm, als spürten sie, dass er wisse, wovon er spricht, obwohl das Fischen doch ihr Metier ist. Sie vertrauen ihm und im vertrauten Blick eines Schaffenden geht es nicht darum, zu sehen, was man gelernt hat, nicht ein Ideal zu suchen, oder nur das zu sehen, was unsere Augen gerade sehen wollen, sondern es geht um den Blick des auf uns zukommenden Gottes, auch wenn es für uns noch keinen Sinn macht, mehr noch, wenn es uns widerstrebt.

2. Werk
Mit Guardinis Blick auf die Künstler, sind die Jünger keine Werkzeuge, sondern sie werden selbst zum Werk ihres eigenen kreativen Schaffens. Es geht, so Guardini, „um die Fähigkeit der Form, das Wesen zu offenbaren“. Das Werk der Jünger wird ’schöpferisch‘, weil sie es neu hervorgebracht haben, der Unterschied zwischen dem ersten und zweiten Fischfang. Denn „dieses Schöpfertum ist nicht willkürlich“, so schreibt Guardini, sondern steht unter einem Auftrag; es dient dem Dasein.  Inwieweit kann das Schaffen der Jünger oder unser Schaffen dem Dasein dienen? Es geschieht mit den Sinnen. Im Kontakt mit dem, was der Mensch sieht, hört und greift. Es ist ein geheimnisvoller Prozess: Indem der Schaffende das Wesen des Dinges mit seinen Sinnen erfasst, erfasst er aber auch sich selbst, „nicht theoretisch wie ein Psychologe, der das eigene Innere untersucht, sondern unmittelbar lebend; etwas erwacht in seinem eigenen Innern“. Es handelt sich um ‚Begegnung‘ im Unterschied zum bloßen ‚Darangeraten‘. Das eigene Sein und das Sein des Dinges wird Form, wird Werk.

3.  Verheißung
Das eben beschriebene ‚Dasein‘ ist aber noch nicht jenes Eigentliche, das unser Innerstes sucht und in dessen Verwirklichung die Zukunft besteht. „[…] seinen eigentlichen Sinn erhält das Werk erst von Gott her“, schreibt Guardini. Es bedeutet, zum Ursprung zurückzukehren, durch Umkehr zur Einheit. Die Bekehrung, nach Guardini, kann geschehen, indem der Mensch in den erschaffenen Raum des Werkes eintritt. In seiner Bibelbetrachtung des Fischfanges in der „Vorschule des Betens“ schreibt er, man solle sich ihn „mit der Phantasie vorstellen, so leibhaftig als möglich. Er solle ganz dabei sein, als ob er des Weges daherkäme, stehenbliebe und in das Geschehnis einträte“; dieses Eintreten und Erleben im Raum des Werkes, im Raum der Bibelstelle und in der Welt allgemein, ist für Guardini der entscheidende Schritt zur Schaffung eigener Identität.
Das wahre Ethos dieser Weltsicht besteht in der ‚Lauterkeit des Blicks’. Im Gegensatz geboren und im Kern seiner Weltanschauung ist er bestimmt, zum ‚Ganzen‘ zu führen. „Und man spürt die Verheißung“ schreibt Guardini. Aber wie? Guardini unterscheidet zwischen dem Bild und den Ur-Bildern, also den Fischen und dem Urbild der Fische.
Und wenn wir diese Bildanschauung auf die Bibelstelle übertagen, so verstehen wir, wenn der Jünger, der Jesus liebte, beim Anblick der Fische sagt „Es ist der Herr!“, „Es ist kein Blick auf die Handlung“ oder auf die Dinge selbst, sondern es ist „der Blick auf das, was nach Liebe verlangt“, erkennbar in dem, was tief in den Ur-Bildern und in unserem Unterbewussten verankert ist. Die Ur-Bilder, die in ein wahrhaft geschaffenes Werk eingewoben sind, werden, nach Guardini, am reinsten geschaut im Spiel der Kinder, wo „die Bilder höher aufsteigen und sich freier entfalten können“. Das geschieht, wenn wir authentisch sind und uns als das erkennen, was wir im Sinne Gottes sein könnten. „Das Bild bist Du“, schreibt Augustinus oder, wie später Delacroix sagt, „Je suis la peinture“. Guardinis Lieblingskünstler Vincent van Gogh, von dem er damals ein Stillleben gekauft hatte, sagt: „Ich kenne keine bessere Definition für das Wort Kunst als diese: Kunst – das ist der Mensch“. So wird für Guardini, wie bei Meister Eckhart, das Bild nicht nur zum „Freund“, sondern das Werk der Kunst wird zum ‚Du‘, von dem wir uns anschauen lassen, mehr noch, wir sollen „Geliebter“ des Kunstwerkes werden, so schreibt er. Diese Begegnung führt zu einem unmittelbaren Gefühl, „neu anfangen zu können“ und zu einem Willen, „es in rechter Weise zu tun“.

Um diesen Prozess in unserem Leben konkret werden zu lassen, könnte man sich immer wieder folgende Fragen stellen: Welche Ur-Bilder und welche Räume erkennen wir in der heutigen Welt? Wissen wir um unsere wirkliche Aufgabe? Tun wir des Tuns wegen? Schaffen wir des Daseins wegen und erkennen wir uns in unserem eigenen Werk wieder? Und letztlich, lassen wir uns wirklich anschauen, um nicht zu vergessen, was unsere wahre Berufung ist? Doch wohl die wichtigste Frage: Wann beginnen wir zu lieben?

Guardini schreibt am Ende seines Lebens in einem seiner „Berichte über mein Leben“: „An die Stelle des Systems mit dem Zwang für meinen Geist und seiner Gewalttätigkeit gegenüber dem Wirklichen trat die Begegnung: jener Vorgang, in welchem der eigene Geist dem Menschen sowohl wie dem Ding, der Erscheinung und dem Ereignis gegenübertritt; mehr noch, ich konnte es als lebendiges Gegenspiel des Ganzen verstehen, das seinen Sinn in sich selbst trägt. Immer mehr habe ich gelernt, im freien Raum zu gehen, es sein zu lassen, wie es ist, nicht aus Systemen, sondern aus dem individuellen Gegenüber heraus zu verstehen, und ich habe verstanden, dass hierin Liebe liegt.“

Foto & Grafikdesign Anja Matzker

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