Theologische Predigt | Jesus – Eckstein und guter Hirte

24. April 2021 | Theologische Predigtreihe „Wo ist Christus?“

Jesus – Eckstein und guter Hirte

Predigt: Prof. Dr. Katharina Pyschny

Wir alle haben recht unterschiedliche Bilder von Jesus im Kopf. Sei es das in Win­deln gewickelte Jesuskind auf diversen Krippendarstellungen, Portraits von Jesus als siegreicher Kämpfer und Weltenherrscher oder Skulpturen vom leidenden und von Schmerzen entstellten Christus. Als kunsthistorische Entwicklungen und Trends entstammen all diese Bilder einer vergangenen Zeit – gleichzeitig gehören sie auch zu der unseren. Sie blicken uns an in Malereien und Plastiken unserer Kirchen, in Illustrationen von Büchern und Zeit­schriften, in Andachtsbildchen oder Figuren und vielem mehr.

In seiner Studie über das Bild von Jesus Christus im Neuen Testament bezeichnet Romano Guardini mit der ihm eigenen sprachlichen Dichte die immense Be­deutung christlicher Kunst als „die Atmosphäre, die Keime und die Muster für das Werden des Christusbildes“ (22). Gleichzeitig spricht er sich für eine Rück­be­sinnung auf die Hl. Schrift aus, um es mit den Worten Guardinis zu sagen auf „die erste Quelle; das Wort der Zeugen“ (23). Denn, so fährt er fort: „Viel zu oft bleibt es [d. h., die Hl. Schrift] Fundort von Belegstellen für theoretische Sätze; viel zu selten wird es zur Offenbarung der lebendigen Wirklichkeit, die sich ja doch nur aus sich selbst heraus erschließen kann“ (23).

Romano Guardini wirft hier eine wichtige und nicht einfach zu beantwortete Frage auf: Welche Bilder von Jesus Christus finden sich eigentlich in der Bibel selbst und wie können sie uns Einblick geben, nicht in theoretische Sätze oder abstrakte Theorien, sondern ganz konkret in die lebendige Wirklichkeit der Offen­barung Gottes? Oder anders formuliert: Wie können die biblischen Bilder von Jesus Christus heute noch im konkreten Leben der Gläubigen eine Sprach­fähigkeit entwickeln?

In den soeben gehörten biblischen Texten sind uns zwei Sprachbilder begegnet, die wohl kaum unterschiedlicher sein könnten: Jesus als Eckstein und Jesus als guter Hir­te. Ich muss gestehen, dass keines dieser Sprachbilder auf den ersten Blick oder, besser, beim ersten Hören besonders spektakulär erscheint. Mit einem Stein ver­bin­det man zwar Größe und Stärke, aber vor allem auch Unbeweglichkeit, Träg­heit und mangelnde Flexibilität. Wer würde schon gerne als ein Stein be­zeichnet werden? Dem­gegenüber ruft das Bild vom Hirten durch die Qualifizierung „gut“, aber auch durch die dem Sprachbild innewohnende Dynamik und Personalität durchaus positive Assoziationen auf. Aber seien wir mal ehrlich, als Vorbild oder gar „Karriere­­perspektive“ eignet sich das Hirtendasein heutzutage, besonders in einer Großstadt wie Berlin, nicht wirklich.

Sind diese biblischen Sprachbilder von Jesus dann nicht vollkommen veraltet und letztendlich unbrauchbar? Sie ahnen bereits, dass ich diese Frage als Bibelwissen­schaftlerin mit einem ent­schiedenen „Nein“ beantworten muss. Als Sinn­experi­mente laden uns die biblischen Sprach­bilder von Jesus vielmehr dazu ein, über sein Wesen und seine Funktion im Leben aller Gläubigen auch im Heute und Hier nachzudenken.

Ich möchte Sie einladen, mir auf einen kurzen exegetischen Streifzug zu folgen, auf dem wir uns den Sinngehalten der Rede von Jesus als Eckstein einer­seits und guter Hirte andererseits annähern werden.

Jesus, der Eckstein – Im vierten Kapitel der Apostelgeschichte wird erzählt, wie Petrus und Johannes wegen der Heilung eines Kranken unter Rechtfertigungs­druck, ja sogar in eine Verfolgungssituation geraten. „Mit welcher Kraft oder in wessen Namen habt ihr dies getan“ (Apg 4,7), fragen die politischen und religiösen Eliten Jerusalems. Diese Ausgangsfrage des Verhörs ist eine Steilvorlage für Petrus, der mutig und entschieden erklärt, sie haben im Namen, im Auftrag und in der Au­torität Jesu gehandelt. Und dann ergänzt er: „Dieser Jesus ist der Stein, der von euch Bauleuten verworfen wurde, der aber zum Eckstein geworden ist“ (vgl. Apg 4,11).

Der Eckstein, manchmal auch Grundstein genannt, ist ein Stein, der in den Winkel zweier Mauern gesetzt wird und der damit der gesamten Baukonstruktion Halt gibt. Als solches ist er der wichtigste Stein, mit dem der Bau des Gebäudes in der Regel begonnen wird. Dabei hat der Eckstein besonders groß und stabil zu sein. Er muss unerschütterlich sein und ganz genau gelegt werden, denn er bietet den Bezugspunkt für alle weiteren Bauarbeiten und ist entscheidend für die Statik des ganzen Gebäudes. Wenn dieser eine Stein schief liegt, werden es auch alle an­de­ren tun und die gesamte Baukonstruktion ist gefährdet.

Dabei findet sich das Motiv des fest gegründeten Ecksteins bereits im Alten Testament. In Jesaja 28,16 spricht Gott selbst: „Siehe, ich lege in Zion einen Grundstein, einen bewährten Stein, einen kostbaren Eckstein, felsenfest gegründet. Wer auf ihn vertraut, wird nicht ängstlich eilen“. Der Kontext dieses göttlichen Ausspruchs macht deutlich, dass es hier nicht nur um einen konkreten Tempelbau auf dem Berg Zion geht, sondern auch um die Gründung und Festigung einer Gemeinde. Genau diese Ver­bindung von Tempelbau (im Sinne eines Gottes­hauses) und des Volkes Gottes (im Sinne von Gemeinde) ist für das Verständnis der Rede von Jesus als Eckstein wesentlich.

Die erste Lesung lädt uns also ein, ja sie ruft uns sogar dazu auf, Jesus als Eckstein beim Bau unseres Lebens zu legen. Dies gilt nicht nur für das je individuelle Le­ben, sondern insbesondere auch für unser Leben in Gemeinschaft als Gemeinde. Denn in dem Sprachbild, in dem wir uns bewegen, exis­tie­ren zwar einzelne Bausteine, aber sie haben für sich alleine keine Funktion. Ihr Sinn ergibt sich erst im Kontext der gesamten Konstruktion. Als Fun­da­ment unseres Lebens kann Jesus uns gerade in stürmischen und unwäg­baren Zeiten Halt, Stabilität und Ausrichtung bieten. Selbst wenn uns der eine oder andere Stol­perstein auf unserem Lebensweg begegnet, haben wir mit Jesus einen Eck- und Grund­stein, auf den wir zurückfallen und wieder neu aufbauen kön­nen. Das Bild von Jesus als Eckstein macht nicht nur deutlich, dass Jesus uns als Gemeinde ver­bindet und zusammenhält, sondern auch, dass er die Grundlage und das Funda­ment ist, auf dem alles ruht. Wenn es keinen Eckstein gibt, dann kann es auch kein Gottesgaus und damit auch keine Gemeinde geben.

Spinnt man das Sprachbild noch weiter fort, dann erkennt man, dass die Rede von Jesus als Eckstein auch eine Aussage über uns als Gemeinde enthält. Wenn Jesus der Eckstein ist, dann sind wir die Bausteine. Wir sind als Gemeinde also gewissermaßen ein Bauprojekt: Wir sind vielleicht noch gar nicht fertig gestellt, haben die eine Bauspanne schon hinter oder noch vor uns, aber: Mit einem Fundament wie Jesus – so die Logik dieses Sprachbildes – haben wir eine gute Chance, vollendet zu werden und dauerhaft Bestand zu haben.

Jesus, der gute Hirte – Gegenüber der Rede vom Eckstein, formuliert im Johan­nes­evangelium Jesus selbst: „Ich bin der gute Hirte“ (Joh 10,11). Auch diese Metapher ist tief in der alttesta­ment­lichen Tradition verankert. Im Ezechielbuch beispiels­weise stellt sich Gott selbst als ein Hirte dar, der sein Volk leitet, es versammelt, für es sorgt, es ernährt und sich insbesondere um die Schwächeren kümmert (vgl. Ez 34,11–16). Auch in Ps 23, den wir gehört haben, wird Gott als fürsorglicher und belebender Hirte bezeichnet. Mit seiner Selbstidentifikation als Hirte reiht sich Jesus also in die vielfältige Hirtentradition des Altes Testaments ein und schlüpft gewisser­maßen in die Rolle und Funktion Gottes. Wie die Gegenüberstellung von gutem Hirten und bezahltem Knecht zeigt, wird das Hirtendasein im heutigen Evangelium nicht nur als ein Beruf, eine Profession, die dem Gelderwerb dient, vorgestellt. Nein, es ist vielmehr eine Berufung – ein Auftrag, den Jesus von seinem Vater erhalten hat (vgl. Joh 11,18) und für den er bereit ist, sein Leben zu geben. Leit­prinzip und Leitperspektive dieses Auftrags ist also der Schutz des Lebens der Schafe, die sinnbildlich für die Gemeinde stehen! Dabei wird das Verhältnis zwischen dem Hirten und seinen Schafen eben nicht über eine soziale Hierarchie oder ein ein­seitiges Besitz­verhältnis ausgedrückt, sondern über Beziehungen.

Denn im Gegensatz zum bezahlten Knecht steht der gute Hirte in einer unaufhebbaren und dauerhaften Bezie­hung zu seinen Schafen. Darin gründet sich seine Aufgabe und daran richtet sie sich auch aus. Die Qualität des guten Hirten wird durch das Thema der Erkenntnis unter­mauert: „ich kenne die Meinen, und die Meinen kennen mich“ (Joh 10,14), spricht Jesus. Dieses wechsel­­seitige Kennen ist nicht kognitiv, abstrakt oder theoretisch zu ver­stehen, sondern drückt die exis­tentiel­le, konkrete Beziehung zwischen dem guten Hirten und seinen Schafen aus. Sie kennen einander und können sich aufeinander verlassen. Diese ein­zigartige Beziehung zwischen Jesus und den Seinen gründet wiederum darin, dass Jesus und Gott einander kennen: „wie mich der Vater kennt, und ich den Vater kenne“ (Joh 14,15), erläutert Jesus. Diese wechselseitige und respon­sive Beziehung zwischen Sohn und Vater wird nun zu einem Modell für das Verhältnis zwischen gutem Hirten und seinen Schafen. Mit der Hirtenmetaphorik lädt uns das heutige Evangelium also ein, Jesus als unseren guten Hirten zu verstehen. Nicht im Sinne eines besitzergreifenden Despoten, der die „dummen Schafe“ hütet, son­dern als einen Für- und Vorsorger, für den unser Wohlergehen, unser Leben und insbesondere unsere (gelungene) Gottes­beziehung im Vorder­grund stehen. Da­für – so die Überzeugung im heu­tigen Evangelium – würde der gute Hirte sein Leben geben und hat es in der Person Jesu Christi auch getan.

„Erst wer, über alle weltentstammten Maßstäbe weg, aus Christus selbst entgegen­nimmt, wer Christus ist, empfängt vom gleichen Christus die Offen­barung, was eigentlich, von Gott her, der Mensch ist“ (141) – mit dieser Er­kenntnis beschließt Romano Guardini die eingangs erwähnte Studie. Damit hebt er zurecht heraus, dass das Nachdenken über das Sein und Wesen Jesu Christi uns dem näher bringt, was Menschsein bedeutet.

Mit den Sprach­bildern vom Eck­stein und vom guten Hirten sind wir noch weit davon ent­fernt, das Sein und Wesen Jesu Christi in Gänze erfasst zu haben. Sie geben uns jedoch einen kleinen Einblick darin, welche Rolle Jesus und seine Leh­re in unserem Leben spielen könnten: als stabiles, unerschütterliches Fundament, auf das man in stürmischen und unwägbaren Zeiten zurückfallen und neu auf­bauen kann, sowie als fürsorgende, bewahrende und schützende Bezugsperson, für die unser allumfassendes Wohlergehen an erster Stelle steht. In diesem Sinne wünsche ich uns, dass wir Jesus ganz bewusst in unser Leben lassen: als Eckstein und als guten Hirten. Amen.

Texte: Apg 4,8–12; 118 (117), 1 u. 4.8–9.21–22.23 u. 26.28–29; 1 Joh 3,1–2; Joh 10,11–18.
Literatur: Romano Guardini, Das Bild von Jesus dem Christus im Neuen Testamemt, Freiburg 1964.

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