Theologische Predigt | Liebe als Berufung

4. Mai 2019 | Theologische Predigtreihe „Wo ist Christus?“

Liebe als Berufung 

Predigt von Dr. Luigi Castangia

„Das Christliche ist letztlich keine Wahrheitslehre oder Deutung des Lebens. Es ist auch das; aber darin besteht nicht sein Wesenskern. Den bildet Jesus von Nazareth, dessen konkretes Dasein, Werk und Schicksal – das heißt also eine geschichtliche Person.“1 So hat Romano Guardini in „Das Wesen des Christentums“ geschrieben. Das heißt, um Christ zu sein, bedarf es einer persönlichen Begegnung mit Christus. Es ist eine Folge dieser Erfahrung, ein Ereignis, an dem Du dich beteiligen sollst.

Das heutige Evangelium (Joh 21,1-19) hilft uns, in diese Erfahrung einzutreten, und stellt uns zwei Jüngerfiguren vor, eine ganz deutlich, die des Petrus, und die andere diskreter, die des „Jüngers, den Jesus liebte“.

Um zu verstehen, was es bedeutet, ein Jünger des Herrn zu sein, müssen wir auf Petrus schauen. Er war kein perfekter Mensch, die Evangelien erzählen uns von seinem ungestümen und impulsiven Charakter an. Insbesondere stimmen alle Evangelisten im Bericht des Verrats überein. Dreimal sagt Petrus während Jesu Festnahme, dass er den Meister nicht kennt.

Der Auszug, den wir gerade gehört haben, berichtet von dem Moment, in dem sich Jesus und der Apostel wieder treffen. Es ist überraschend zu sehen, wie sich der Herr an Simon wendet. Er weiß genau, dass der Jünger zutiefst betrübt und enttäuscht ist, weil er ihn verleugnet hat. Der Herr sieht in Petrus den Schmerz des Sünders und versteht ihn, er sieht einen Menschen, der mit sich selbst unzufrieden ist und sich vor dem Gesicht des Verratenen verstecken möchte.

Nun passiert jedoch etwas Außergewöhnliches. Jesus fängt nicht an, Simon Vorwürfe zu machen. Stattdessen fragt er ihn dreimal: „Simon, liebst du mich?“

Guardini kommentiert diese Passage und erklärt, dass diese dreifache Frage der dreifachen Leugnung entspricht2. Trotz seines Fehlverhaltens fühlt sich Petrus angenommen, er fühlt sich weder beschuldigt noch verurteilt. Ganz im Gegenteil: die Begegnung mit dem Herrn rehabilitiert ihn in einer bevorzugten Liebe: „Simon, Sohn des Johannes, liebst du mich mehr als dies“3.

Petrus merkt hier, dass Christi Vorliebe für ihn nicht nachgelassen hat, und erst jetzt versteht er, dass sein eigenes Elend kein Hindernis für Gottes Liebe ist. Die bedingungslose Gutheit der Liebe des Herrn rehabilitiert den Sünder, dessen verwundetes Herz Vergebung braucht. Erst jetzt versteht der Apostel, dass er ohne Ihn nichts tun kann4. Der Antwort von Petrus entspricht der Ruf einer neuen Aufgabe: „Weide meine Lämmer!/ meine Schafe!“.

Dieses Ereignis ist der wesentliche Kern von Petrus‘ Berufung und muss daher gut verstanden werden. Der Apostel hatte den Untergang seines persönlichen Projekts erlebt. Gemäß seiner Vorstellung, hätte Christus nicht leiden sollen5; nach seinem Verständnis hätte Petrus ihn befreit und mit Gewalt gekämpft6. Doch dieses Projekt ist kläglich gescheitert und der Apostel hat Jesus nicht nur nicht gerettet – er war der erste, der voller Angst geflüchtet ist. So durchlief Petrus eine tiefe Krise und begann, an seiner Kraft zu zweifeln. Er hatte den Herrn verraten und litt nun unter dieser bitteren und demütigenden Niederlage.

Nur wenn wir uns der Krise von Petrus bewusst sind, können wir verstehen, wie befreiend die Begegnung mit dem Auferstandenen am Ufer des Sees gewesen sein muss: „Simon, Sohn des Johannes, liebst du mich? – Ja, Herr, du weißt, dass ich dich liebe“7. Der Jünger erkannte den liebevollen Blick und konnte gar nicht anders antworten als „Herr, du weißt alles; du weißt, dass ich dich liebe.“8 Guardini schreibt: „Gottes Liebe ist Erbarmen und Hochschätzung, Großmut und Vertrauen.“9 Dieses Vertrauen ist die Grundlage jeder authentischen christlichen Berufung: Gott setzt auf uns, wie Er auf Petrus setzte, der ihn einige Tage zuvor verraten hatte. Solche wahnsinnige Liebe ist die wesentliche Grundlage für jeden Ruf, dem Herrn nachzufolgen: Er hat uns nicht ausgewählt, weil wir gut, mutig und stark sind. Er wählt uns aus, weil Er uns gegenüber ständig barmherzig ist. Nur so können wir Gott kennenlernen. Nochmals erklärt Guardini: „Die christliche Liebe ist der Akt, mit welchem der Mensch den Gotteswert, ihm entgegentretend in der Person Christi, erfaßt und zu eigen hat. Dieser Akt aber ist ihm vom gleichen Gott geschenkt.“10

In der anderen Figur, die des „Jüngers, den Jesus liebte“, taucht diese Ungezwungenheit der göttlichen Liebe ebenfalls auf. Die Bezeichnung des Jüngers „den Jesus liebte“ im Johannesevangelium erscheint zum ersten Mal beim letzten Abendmahl11, wo die bevorzugte Liebe des Herrn für ihn entsteht. Wir finden ihn im Hof des Hohenpriesters12 und vor dem gekreuzigten Jesus13. Er wird als idealer Jünger beschrieben, eine Figur, die sich von Petrus abhebt. Das Evangelium unterstreicht die Treue dieses Jüngers während der Passion Christi sowie die Bereitschaft, den Auferstandenen zu erkennen14. Geht es um eine historische Figur oder um ein Symbol? Sicher um beides.

Die Tradition hat ihn als den Evangelisten Johannes selbst identifiziert. Die Tatsache, dass er nie namentlich erwähnt wird, hat jedoch eine tiefgreifende Bedeutung. Denn diese Perspektive durchbricht den narrativen Horizont und erreicht uns so unmittelbar. Du bist berufen, der geliebte Jünger Christi zu sein und dich wie er zu benehmen. Der Jünger, den Jesus liebt, hat keinen Namen, weil er deinen Namen hat.

Jeder von uns ist berufen, ein Jünger des Herrn zu werden, und zwar nicht aus eigener Kraft, aus einer Konsequenz oder dank persönlichem Talent, sondern aus einer liebevollen Vorliebe Christi für uns. Die Liebe Christi geht uns voraus. „Denn Christus ist, als wir noch schwach waren, für die zu dieser Zeit noch Gottlosen gestorben.“15 Das Wort, das Paulus benutzt, ist asebes und das bedeutet: gottlos, unheilig, profan, sakrilegisch.

Wenn wir glauben, dass wir so waren, bedeutet es, dass Christus für uns gestorben ist. Die Erfahrung von Petrus zeigt uns, dass die Vorliebe für uns nicht einmal an unserer Inkonsequenz scheitert. Paradoxerweise hat die Vergebung des Verrats den Apostel sicherer gemacht, dass seine einzige Stärke in Gott liegt: Nur durch diese dramatische Erfahrung wurde Petrus ein wahrer apóstolos, das heißt ein Botschafter, ein Gesandter, der die Liebe Gottes verkündet. Petrus war sich bewusst, dass die Liebe, mit der er von Christus geliebt wurde, auf der ganzen Welt verkündet werden sollte. Das Leben ist Berufung, und diese Berufung fällt mit der Liebe zusammen: die Bestätigung des barmherzigen Blicks, den Christus auf uns hat.

Guardini schlägt eine wunderbare theologische Synthese der Liebe im Johannesevangelium vor: „Johannes sucht die Liebe in ihrer absoluten Gestalt. Er gewinnt sie durch eine Sinnverwirklichung von äußerster Reinheit, und zugleich durch eine ungeheure Realistik: Gott ist die Liebe … Die Liebe, das ist Gott. Gott liebt den Menschen. Diese Gottesliebe ist Menschwerdung; Hingabe zur Speise in der Eucharistie; erlösender Tod; Auferstehung und Kraft des An-sich-ziehens und Hinauf-ziehens aller Menschen. Der Mensch ist wiedergeboren.“16

Kurz gesagt: das Johannesevangelium (21,1-19) stellt uns zwei Jüngerfiguren vor, eine ganz deutlich, die des Petrus, und die andere diskreter, die des „Jüngers, den Jesus liebte“. Diese zwei Figuren, und insbesondere die von Petrus, helfen uns zu verstehen, was es bedeutet, ein Jünger des Herrn zu sein. Die Erfahrung der Vergebung Christi, die Petrus erhält, ist der grundlegende Moment seiner Berufung. Guardini schreibt: „Gottes Liebe ist Erbarmen und Hochschätzung, Großmut und Vertrauen.“17 Dieses Vertrauen ist die Grundlage jeder authentischen christlichen Berufung: Gott setzt auf uns, wie Er auf Petrus setzte, der ihn einige Tage zuvor verraten hatte.

Mit anderen Worten, Christus liebt uns nicht, weil wir liebenswert sind, aber seine Liebe macht uns liebenswert.


 

1 R. Guardini, „Das Wesen Des Christentums“, Das Wesen Des Christentums. Die Menschliche Wirklichkeit Des Herrn: Beitrage Zu Einer Psychologie Jesu (Mainz – Paderborn 71991) 14.
2 „Wie dann die Frage zum zweiten und dritten Male kommt, merkt er, was das bedeutet: daß er für seinen dreimaligen Verrat zur Sühne gerufen wird. Zugleich aber wird ihm das Wort von Cäsarea Philippi bestätigt: er soll das Felsenfundament bleiben und die Schlüssel des Himmelreichs behalten; er soll der Hirt sein, der die Lämmer und die Schafe, die ganze Herde seines Herrn führt. Alles Gewesene bleibt. Jesus bleibt, und Petrus bleibt, und das Geschehene bleibt, aber alles ist heilig umgewandelt,“ R. Guardini, Der Herr. Betrachtungen über die Person und das Leben Jesu Christi (Mainz – Paderborn 182000) 509.
3 Joh 21,15.
4 Vgl. Joh 15,5.
5 Vgl. Mt 16,22-23; Mk 8,32-33.
6 Vgl. Lk 22,49-50; Joh 18,10-11.
7 Joh 21,16.17.
8 Joh 21,17.
9 R. Guardini, „Ich fühle, daß Großes im Kommen ist.“ Romano Guardinis Briefe an Josef Weiger 1908-1962 (Hsg. H.-B. Gerl-Falkovitz) (Ostfildern – Paderborn 2008) 92.
10 R. Guardini, „Die Liebe im Neuen Testament“, Wurzeln eines großen Lebenswerks. Aufsätze und kleine Schriften (Mainz – Paderborn) III, 90-91.
11 Vgl. Joh 13,23-26.
12 Vgl. Joh 18,15-16
13 Vgl. Joh 19,25-27.
14 Vgl. Joh 21,2-10; 21,7.
15 Röm 5,6.
16 Guardini, „Die Liebe im Neuen Testament“, 87.
17 R. Guardini, „Ich fühle, daß Großes im Kommen ist.“ Romano Guardinis Briefe an Josef Weiger 1908-1962 (Hsg. H.-B. Gerl-Falkovitz) (Ostfildern – Paderborn 2008) 92.

Foto & Grafikdesign Anja Matzker

Kategorien: