Guardini Akut | Von Symbolischer Immunschwäche

Guardini Akut | KW 47/2020

Von Symbolischer Immunschwäche

Wir hätten keine angemessene „Immunantwort“ auf die aktuelle Gefahr, heißt es heute oftmals. Vielleicht muss dieser Satz nur recht verstanden werden, um das eigentliche Ausmaß unserer Anfälligkeit zu ermessen.
Von Wanja Kirchhoff

„Die ganze Welt ist nur ein Hospital“ – so scheint es heute, so war es schon einmal. Als das erste Mal eine Krankheit sich in den Bewusstseinen ausgebreitet hatte und man von einer Medizin allein sich Heilung versprach, hieß die Krankheit „Sünde“ und der Arzt – nun ja: „Einer ist Arzt, … Jesus Christus unser Herr“ (Ignatius von Antiochia). Am Anfang der Erlösungsreligion steht die Ausrufung des allgemeinen Sündenstandes. Nur vor dem Hintergrund dieser aufs Ganze gehenden Pathologie konnte ein Lyoner Bischof des zweiten Jahrhunderts n. Chr. seine Schafe zur längerfristigen Aufgabe ihrer alten Normalität bewegen: „Wie werden Kranke geheilt und wie können Sünder Buße tun? Etwa indem sie alles beim Alten lassen oder indem sie im Gegenteil eine große Veränderung und Wende in ihrer bisherigen Lebensführung, durch die sie sich schwer krank gemacht und sich zahlreiche Sünden zugezogen haben, vornehmen?“ (Irenäus von Lyon).

Als Christus Medicus beerbte der neue Gott den heidnischen Asklepios, Vater der Hygeia (Gesundheit). Er hätte sein Monopol jedoch nicht halten können, wäre die Sünde nicht zu einem Totalitätsbegriff ausgebaut worden, in dem die ganze anhaltende Menschheitsmisere sich fassen ließ, sodass publikumswirksame Einzelheilungen das universelle Heil allenfalls anzudeuten vermochten. Ein vollständiger Zusammenfall des medizinischen Gleichnisses mit seiner Bedeutung wäre nur in sektiererisch-totalitären Treibhäusern denkbar gewesen. Religion, so ein bekennender Hypochonder unserer Tage, wirkt eben primär als „ein symbolisches Immunsystem“ (Peter Sloterdijk).

Die praxisorientierte Wissenschaft der Moderne kann sich rühmen, dieses symbolische Immunsystem durch fortschreitende technische Einzelimmunisierungen weitgehend überflüssig gemacht zu haben. Wer die technische Neutralisierbarkeit vieler Leiden gewohnt ist, an denen seine Vorfahren noch zugrunde gingen, hat wenig Anlass, sich in der symbolischen Bewältigung menschlichen Grundgefährdetseins länger zu bilden. Was aber, wenn der kryptoreligiöse Hinfälligkeitsverdacht gegen alles menschliche Gedeihen insgeheim und in unkultiviertem Halbbewusstsein fortbestünde? Und was, wenn angesichts dieser Disposition die Sprecher einer technisierten Wissenschaft dazu übergingen, ein einzelnes Risiko unter vielen zur absoluten Gefahr zu stilisieren?

Dann wäre eine Zivilisation, deren symbolisches Immunsystem am Boden liegt, der Versuchung schutzlos ausgeliefert, ihre irrationalen Ängste und neurotischen Energien an ‚wissenschaftliche Fakten‘ zu hängen, die vorgeben, keine symbolische sondern unmittelbare Realität darzustellen. Dann könnte es passieren, dass Menschen bereitwillig allerlei Maßnahmen über sich ergehen lassen, ohne zu gewahren, mit jeder ’sozialen Distanzierung‘, mit jedem Bogen, der um einen Alten gemacht wird, mit jeder Gesichtsverhüllung, mit jedem Verzicht auf althergebrachte Gesten des Grußes und des Vertrauens rituell-symbolische Einübungen zu vollziehen, die ihren primären Effekt in sich selbst und daher auch in ihrer Verselbstständigung haben. Es wäre auch denkbar, dass reihenweise aufgeklärte Frauen sich in einen sympathisch-jungenhaften Doktor „schockverlieben“, der doch in beispielloser Ausdehnung seiner fachwissenschaftlichen Expertise auf sämtliche Lebensbereiche – selbst, wenn seine Doktorarbeit sich je finden ließe – nur ein Quacksalber sein kann; dass nur noch Ketzer befolgen, was früher jedermanns Rat war: „hol eine zweite ärztliche Meinung ein!“; dass ganze Populationen in der Annahme, einem Naturereignis beizuwohnen, vor Bildschirmen, tendenziös aufbereiteten Graphiken, verabsolutierten Zahlen fragwürdiger Testergebnisse und rotierenden Bällen mit gestachelten Noppen wie von gorgonischem Schrecken gebannt bereitwillig mehr und mehr von dem, was ihnen an rechtlicher und symbolischer Immunität durch Verfassungen, Bildung, Kunst und Religion noch gewährleistet war, preisgeben, um sich in Wohnungen, deren Unverletzlichkeit in Frage steht, zwischen Türmen von Klopapier und zugleich in größtmöglichem Unvermögen, die eigene Lage zu deuten, einzuigeln.

Wenn das wir sind, wer ist dann der „Arzt der Cultur“ (Nietzsche), der uns über uns selbst aufklären könnte? Wenig spricht dafür, dass diejenigen, die man dafür halten wird, den Menschen zu dem ermutigen werden, was Romano Guardini in puncto Der Arzt und das Heilen als den „entscheidende[n] Schritt zum Beginn echter Gesundheit“ bestimmte: „die Annahme seiner selbst; seiner Geschichtlichkeit mitsamt ihrer Tragik“. Dagegen scheint es, als sei „Corona“ längst mutiert, ehe ein wirksamer Impfstoff hätte dazwischengehen können: von einem evidentiell bemessbaren Risiko zum Symbol eines neuen Weltethos, auf dessen Grundlage sich alles rechtfertigen lässt.


Wanja Kirchhoff studierte Religionswissenschaft, Geschichte und Judaistik in Potsdam, Jerusalem und Kopenhagen. Er lebt in Berlin und bereitet derzeit ein Promotionsprojekt zur spätantiken Gnosis vor.

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