Guardini akut | Solidarität – ein Wort, das Geschichte schuf

Guardini Akut | KW 43/2020

Solidarität – ein Wort, das Geschichte schuf

Von Ludger Hagedorn

Es sind herausragende Momente im Leben von Menschen, an die wir uns rückblickend erinnern. Im Leben des polnischen Philosophen und Geistlichen Józef Tischner ereignete sich ein solcher Moment am 19. Oktober 1980, als er auf dem geschichtsträchtigen Krakauer Wawel eine Predigt für die neu gegründete Solidarnosc hielt, die erste unabhängige Gewerkschaft in einem Staat des Warschauer Pakts. Erst wenige Wochen zuvor war die Gewerkschaft nach heftigen und anhaltenden Protesten auf der Danziger Schiffswerft offiziell vom polnischen Staat anerkannt worden. Es war einer dieser geschichtlichen Momente voll von Hoffnung und Veränderung, einer jener Momente von plötzlicher Offenheit und Unvorhersehbarkeit der Ereignisse, die etwas Kostbares sind und meist allzu schnell vorübergehen. In Polen hielt er immerhin etwas mehr als ein Jahr an, bevor im Dezember 1981 das Kriegsrecht verhängt wurde. Es war dies der schärfste Versuch, die neue Bewegung der Solidarnosc zu ersticken, ein Versuch, der am Ende nicht erfolgreich war.

Guardini akut | Solidarität – ein Wort, das Geschichte schuf – Guardini Stiftung e.V.

© Marek Tischner

Zurück in den Oktober 1980. Tischner soll seine Predigt vor der gesamten Führung der neuen Gewerkschaft und ihrer Repräsentanten halten. Ihre Hoffnungen und Erwartungen an ihn sind hoch. Groß sind aber auch das Misstrauen und der Zorn der staatlichen Organe, die ebenso aufmerksam zuhören werden. Erwartet wird eine Predigt – sie kann und sollte nicht politisch im engen Sinne sein, zugleich kann und darf sie aber auch nicht unpolitisch bleiben. Tischner beginnt mit einem Satz, der alle Anwesenden miteinschließt: „Wir tragen heute unsere brennendsten Herzensangelegenheiten auf den Wawel, sie lassen sich in einem Wort zusammenfassen, in dem Wort Solidarität.“ Diese Eröffnung setzt den Ton – ein persönlicher, nachdenklicher, der nichts deklariert, sondern von der Solidarität als Frage und Angelegenheit des Herzens handelt. Zugleich intoniert er aber fast unmerklich die Präfation („Erhebet Eure Herzen“), wenn die Solidarität bildlich auf den Wawel hinaufgetragen und so in das historische Herz Polens gerückt wird. Im Verlaufe der gesamten weiteren Predigt wird er außerdem mit der doppelten Bedeutung des Wortes „Solidarität“ spielen: obwohl die Predigt stets nur von Solidarität als universeller zwischenmenschlicher Fähigkeit spricht („einer trage des anderen Last“), ist es ganz unmöglich, dabei nicht auch an die neue Bewegung dieses Namens und die konkrete politische Situation in Polen zu denken. An einer Stelle wird Tischner fast schelmisch fragen: „Was bedeutet dieses alte und zugleich neue Wort Solidarität? Wozu ruft es auf?“

Seine öffentliche Predigt vom 19. Oktober 1980 und das weitere Zusammenwirken mit der Solidarnosc bei ähnlichen Gelegenheiten trugen ihm den inoffiziellen Titel „Kaplan der Solidarität“ ein. Bis 1989 war er geistlicher Begleiter und Ratgeber der Bewegung, und im Unterschied zu anderen Priestern, die vielleicht eine ähnliche Rolle spielten, blieb sein guter Ruf nicht nur intakt, sondern er wurde in den schwierigen Jahren der Transformation nach 1989 zu einer vielgesuchten Instanz des öffentlichen Lebens. In gewissem Sinne wäre es vielleicht angebrachter, ihn den „Philosophen der Solidarität“ zu nennen. Denn während Leszek Kolakowskis Schriften einen starken Einfluss auf das anti-kommunistische und anti-totalitäre Ethos der Solidarnosc hatten, waren es die kontinuierlichen Bestrebungen Tischners, die für eine Verbindung zum Katholizismus und zu weiten Teilen der polnischen Gesellschaft sorgten. Seine Essays, die im Zusammenhang dieses Engagements entstanden, wurden 1982 polnisch unter dem Titel „Etyka Solidarnosci“ veröffentlicht, deutsch im selben Jahr als „Ethik der Solidarität. Prinzipien einer Hoffnung“. Sie verbinden auf schönste Weise philosophische Tiefe mit einer luziden Anschaulichkeit und Klarheit der Argumentation. Ihr Eintreten für individuelle Verantwortlichkeit und eine Ethik des Dialogs war von maßgeblicher Bedeutung für die politische Entwicklung dieser Jahre.

Noch einmal zurück zur Predigt im Oktober 1980: Nach seinem Auftakt mit der Solidarität als „Herzensangelegenheit“, die auf den Wawel hinaufgetragen wird, setzt Tischner mit den beiden folgenden bemerkenswerten Sätzen fort: „Das Wort Solidarität vereinigt in sich unsere unbestimmten Hoffnungen, voller Unruhe, und es gibt Anstoß zu Mut und zum Nachdenken; es verbindet Menschen miteinander, die sich gestern noch fernstanden. Die Geschichte bringt Worte hervor, damit dann diese Worte Geschichte gestalten können.“ Höchst bemerkenswert ist Tischners Insistieren, von Solidarität als Wort zu sprechen, nicht aber als Bewegung oder politische Botschaft. Doch ist es gerade diese abstrakte Solidarität, der er die erstaunliche Fähigkeit zuschreibt, Menschen zu verbinden, „die sich gestern noch fernstanden“.  An wen sollen wir denken? Für eine Gesellschaft in Aufruhr sendet es jedenfalls klare Signale der Versöhnung. Die grundstürzende Aussage allerdings folgt erst im Satz danach: Die Geschichte, so heißt es, bringt „Worte“ hervor (nicht Aktionen, Aufstände, Bewegungen), die dann ihrerseits die Geschichte gestalten. Die Aussage mag unverdächtig daherkommen, aber sie ist nichts anderes als explosiv. Es ist das „Wort“, das „neue Wort“, das eine neue Geschichte schaffen wird (oder schaffen kann) – eine starke Aussage im Kontext der Zeit und eine Aussage, die getroffen wird, ohne auch nur ein einziges Mal die Bewegung der Solidarität zu erwähnen. Zugleich enthält die Aussage eine interessante Doppelung der Bedeutung: sie kann deskriptiv-prophetisch verstanden werden (Solidarität kann/wird Geschichte machen), aber natürlich könnte sie auch ein Appell zur Beharrlichkeit im Glauben an das neue Wort sein. Die bekannteste Formulierung der Predigt wird übrigens erst später folgen, wenn Tischner über die „Solidarität der Gewissen“ als den tiefsten Ausdruck von Solidarität spricht.

Józef Tischner starb im Juni 2000. In Polen erinnert man sich an ihn als einen hochoriginellen Denker, der den Konflikt nicht scheute, aber jeden Menschen, auch die Gegner und schlimmsten Widersacher, mit einer ihm eigenen Liebenswürdigkeit betrachtete. Auch die ernstesten Angelegenheiten konnte er so behandeln, als ob es mit einem schelmischen Augenzwinkern geschähe.

Genau 40 Jahre ist es her, dass Tischner vom Wort predigte, das Geschichte zu schaffen vermag. Vor allem aber war es sein Wort an diesem Tag, das tatsächlich eine neue Geschichte schuf.


Dr. Ludger Hagedorn ist Permanent Fellow am Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM). Er studierte Philosophie und Slawistik an der Freien Universität Berlin und promovierte an der Technischen Universität Berlin. Von 2005 bis 2009 war er Purkyne-Fellow an der Tschechischen Akademie der Wissenschaften. Er lehrte u. a. an der Gutenberg-Universität Mainz, der Södertörns Högskola in Stockholm, der Karls-Universität Prag und der NYU Berlin. 2013 organisierte und leitete er eine deutsch-polnische Konferenz zu Romano Guardini und Józef Tischner an der Humboldt-Universität zu Berlin.

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