Guardini akut | Rationalität vs. Gefühl?

Guardini Akut | KW 42/2020

Rationalität vs. Gefühl?

Die Frage, ob Rationalität wirklich ohne Gefühl auskommt, stellt sich in Coronazeiten neu.
Von Frank Hahn

Es wird argumentiert und gestritten über Corona, im Freundeskreis und in der Familie. Doch wie weit helfen Argumente, wenn es um Gefühle geht? Und eine Pandemie, welche die Gesellschaft mit dem Thema Sterblichkeit konfrontiert, ruft in uns allen wohl die stärksten Gefühle hervor – Ohnmacht, Angst und Wut. Ich habe kürzlich das Thema Masken im Freundeskreis angesprochen. Dass die Maske einem auch den Atem nehmen kann, dass sich Menschen verstecken, einander misstrauisch belauern, weil sie nicht mehr das Antlitz des Anderen sehen. Emmanuel Lévinas hat seine ganze Philosophie um das Antlitz aufgebaut: Das Antlitz, so sagt er, gebietet mir: „Du sollst nicht töten“. Ich zitierte auch Brygida Helbig, die kürzlich auf diesen Seiten von der Wut schrieb, welche die Maske in ihr berührt: „Die Maske steht für etwas. Das Gefühl, ich soll still sein, nichts sagen…“. Wut ist meist ein Ausdruck von Schmerz und Verletzung. All dies wird berührt in diesen Zeiten. Auch wenn man das Tragen der Masken einsieht, sollte es erlaubt sein, solche Fragen zu stellen. Doch davon wollte man bei den Freunden nichts hören. Die Maske sei doch nur ein Stück Stoff wie eine Hose! Ich war sprachlos und fühlte mich unverstanden – selbst bei guten Freunden, die differenziert denken und einfühlsam sind. Aber in Coronazeiten ist alles anders. Und das beschäftigt mich.

Sollte nicht gerade in Zeiten einer globalen Pandemie, da das Thema Sterblichkeit allgegenwärtig ist, Raum sein für die Verletzlichkeit jener Menschen, die Einsamkeit und Einschränkungen der Freiheit vielleicht mehr spüren als andere? Sind nicht gerade sie so etwas wie wichtige Seismographen, denen wir dankbar sein sollten, dass sie etwas bezeugen, das in unserer rational-technischen und verwalteten Welt so sehr verschüttet ist? Das Gegenteil scheint in Coronazeiten der Fall zu sein, denn öffnet jemand seine Seelenlandschaft und zeigt sich ungeschützt mit dem, was er spürt und fühlt, wird er mit Sachargumenten überschüttet, mit medizinischen Fakten, die sogleich ins politisch-administrative und juridische übersetzt werden. Hier endet der mögliche Austausch, bevor er begonnen hat. Wäre es da nicht besser zu schweigen, als so fundamental aneinander vorbei zu reden? Im Schweigen vielleicht deutlich werden zu lassen, dass hier zwei ganz unterschiedliche Lebens- und Gefühlswelten aufeinandertreffen, für die es momentan keine Übersetzung gibt? Wer sich hinter Sachargumenten verschanzt, wird vermutlich leugnen, dass er überhaupt in einer Gefühlswelt lebt, denn gerade die Gefühle, so meint er, halte er ja aus der Debatte heraus, indem er nur die Fakten sprechen lasse. Doch verdeckt er damit nicht vor allem seine eigene Ohnmacht und Angst? Die Menschen reagieren auf Gefühle unterschiedlich: Die „Vernünftigen“, die der Wissenschaft und der Politik rückhaltlos folgen, sehen in der Unterstützung der administrativen Maßnahmen für sich einen Weg aus Ohnmacht und Angst vor dem Tod. Aus dieser Perspektive sind sie genauso verletzlich wie diejenigen, denen sie moralisierend und sanktionierend begegnen, wenn diese nach den gesellschaftlichen, psychischen und spirituellen Folgen der politischen Maßnahmen fragen. Wer nun auf diese Fragen keine Antwort bekommt oder nur Empörung erntet, erlebt eine andere Form der Ohnmacht, die sich unter Umständen in Wut entlädt, die auf die Straße getragen wird.

Es ist verständlich, wenn sich Menschen in dieser Lage an die Wissenschaft als letzten Anker halten. Sie verspricht Klarheit, ordnet die Zusammenhänge, liefert Erklärungen und gibt durch scheinbar objektive Fakten den Rahmen politischen Handelns vor. Doch wirkliche Wissenschaft ist sich stets ihrer eigenen Grenzen bewusst und lebt vor allem von der Kritik, die jedes Ergebnis hinterfragt, um es entweder zu validieren oder zu verwerfen. Wirkliche Wissenschaft ist sich bewusst, dass sie nicht wertfrei operiert – andernfalls würde sie in Dogmatismus erstarren. Der zurzeit populärste Wissenschaftler der Republik, der Virologe Professor Christian Drosten, hat vor kurzem einen aus meiner Sicht wichtigen Satz gesagt: „Auf Dauer müssen wir lernen, mit dem Rest-Risiko zu leben.“ Kein Politiker hat sich in den letzten Monaten getraut, so einen Satz zu sagen. Hätte er nicht befürchten müssen, als verantwortungslos gegenüber dem Lebensschutz – und damit geradezu herzlos – geschmäht zu werden? Die Politik gerät in eine gefährliche Falle, wenn sie meint, absolute Sicherheit, ohne jedwedes Restrisiko, versprechen zu müssen. Zeigt die Verbreitung der Illusion hundertprozentiger Sicherheit jedoch nicht eine tiefe Sinnkrise, man könnte sagen, eine spirituelle Krise unserer Gesellschaft? Zeigt sich diese Krise vielleicht auch als Furcht vor dem Risiko, neuen Zugang zum Fühlen und Spüren zu bekommen? So als ob wir uns vor einem inneren Dämon fürchten?

Man vernimmt zunehmend Stimmen, die gerade in der Coronadebatte fordern, dem Aufbrechen von Gefühlen mit der Stärke der Aufklärung und der Rationalität entgegenzutreten. Dies sei das probate Mittel gegen Verschwörungsmythen und ähnliche irrrationale Tendenzen. Abgesehen davon, dass der Verschwörungstheoretiker ja gerade deswegen sich seine Theorie über die Welt zurecht strickt, um ebenfalls seine Dämonen zum Schweigen zu bringen – was bedeutet diese Entgegensetzung von Rationalität und Gefühl? Kommen Vernunft und Wissenschaft wirklich ohne Glauben aus? Bleiben Gefühle ohne ein sie begleitendes reflektierendes Bewusstsein nicht abgekapselt? Sie verschwinden dadurch jedoch nicht, sondern könnten sich auf gefährliche Weise Bahn brechen. Gerade in diesen Zeiten scheint es nötiger denn je, solcherart Fragen neu zu stellen.


Frank Hahn ist als Mediator tätig. Daneben ist er freier Autor, der zum dialogischen Denken Franz Rosenzweigs, Martin Bubers und Emmanuel Lévinas‘ publiziert. Zuletzt erschien von ihm 2020 im Kadmos Verlag das Buch „Sprache als Gleichnis – zwei Studien zu Franz Rosenzweig“. Außerdem schreibt Hahn seit einigen Jahren literarische Texte, betätigt sich als Literaturrezensent beim Online-Magazin „tell“ und lässt sich zum Gestalttherapeuten ausbilden. Seit 2007 leitet er den Kulturverein Spree-Athen e.V.

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