Guardini akut | Wellenberg, Wellental

Guardini akut | KW 39/2020

Wellenberg, Wellental

Nachdenken über die (Sprach-)Bilder der Krise
Von Brinthanan Puvaneswaran

Mich ermüdet das Bild der Welle. Es ist allgegenwärtig. Sein Gebrauch scheint die Angst vor dem Versagen der Deiche zu nähren – als seien sie in Gefahr, von in Proteinkeulen eingekranzt wildgewordenen Stücken von Ribonukleinsäuren unterspült zu werden, oder stünden kurz davor, von den sich nicht um die Souveränität der Staatengebilde scherenden Massen von Gehetzten und Glücksjägern überwunden zu werden. Und erst recht diese rechthaberische Ungeduld, die wie beim Wo-ist-Walther-Suchen in jedem Schattenflackern das Wetterleuchten des zweiten Ansturms ausgemacht haben will! Ich bin dieser Reden müde; ihre Allgegenwart langweilt und ekelt mich zugleich.

Es ist eine Binse, dass durch den Gebrauch von Bildern komplexe Realitäten aufgebrochen würden und die Interpretation letzterer innerhalb der Grenzen dieser Rede gefördert werde. Mir scheint jedoch, dass durch die oben beschriebene inflationäre Verwendung dieses einen Bildes für Tsunami-, Pleite-, Hitze-, Flüchtlings- und Infektionswelle(n) ihr Potential zur Neuperspektivierung angesichts der derzeitigen Umwälzungen eingeflacht wird. Denn die Angst vor dem drohenden Wellenberg und das irrlichternde Versprechen von Erlösung im Wellental sind nicht die einzig möglichen Verortungen, die inmitten dieser Misere eingenommen werden können.

Der sich in den Geschichten der Altvorderen findende und uns in Gestalt der hebräischen Bibel überlieferte Schatz an Sprachbildern hat mir in den letzten Monaten neu und unvermittelt Zuhause, Zuflucht und Zerstreuung gegeben. So sah ich mich in den ungewissen Tagen dieses Frühlings in meiner Wohnung wie in Noahs quaderförmiger Arche Zuflucht suchen und bei jedem Händewaschen, Maskeaufsetzen und Desinfizieren an Atrachasis, der die Tür zum rettenden Schiff mit Pech verdichtete, erinnert. Auf eine ähnliche Weise bin ich ständig geneigt, Kongruenzen zwischen der Wüstenwanderung und der durch die Eindämmungsmaßnahmen erfolgte Reduktion des Lebens festzustellen. Aus der Fülle Ägyptens kommend soll, um Leben zu erhalten, Leben gefastet werden; und die klirrende Monotonie der kargen Wüstenlandschaft der leeren Räume des geselligen Beisammenseins wird tagtäglich lauter. Und das Murren, das Murren gegen die neuen Rechtsordnungen – und das Murren der Rotte Korachs vor dem Haus des Gesetzes.

Währendem ich diese Zeilen schreibe, merke ich, dass mir eine Eigenart der hebräischen Schriften zutiefst eigen geworden ist. In den verdichteten Texten der Altvorderen, sei es Poesie, Prophetie oder Kunstprosa, ist das Mittel der Verdoppelung der Rede, der sogenannte Parallelismus Membrorum, allgegenwärtig. Ideen, Bilder und Beschreibungen werden mittels syntaktisch kongruent geformter Sätze ausgedrückt, die wiederum von rhetorischen Figuren durchsetzt sind. Nicht selten wird dieses Prinzip der verdichteten Rede gebetsmühlenartig und ad nauseam ausgeführt, sodass in ihrer Gesamtheit diese Texte zu einem heuristischen Kaleidoskop der Sprachbilder werden. In einem so entstandenen Dickicht der Realitätsbrechungen ist dem assoziierenden Geist eine wundersame Heimat geboten.

Nichts weniger als die Betrachtung der gegenwärtigen Situation durch ein solches Kaleidoskop der Sprachbilder ist angesichts der Tragweite der Misere angemessen. Denn eine monotone Rede darüber ermüdet, macht unbeweglich und beraubt uns unserer Kreativität. Als Vorbild und Quelle kann dazu die hebräische Bibel dienen, aber auch mit den anderen Mythen der Altvorderen kann dies gelingen. Denn warum nicht auf Thors Hammer hoffen und sich in Shivas Tanz versenken?


Brinthanan Puvaneswaran ist als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Exegese und Literaturgeschichte des Alten Testaments an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität tätig. Er studierte Theologie in Basel, Jerusalem und Berlin und hat soeben seine Dissertationsschrift zur Ideengeschichte der Hebraistik eingereicht.

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