Guardini akut | Religion als Gegenstand politischer Bildung

Guardini akut | KW 37/2020

Religion als Gegenstand politischer Bildung

Anfang 2018 hat die Bundeszentrale für politische Bildung eine Stelle eingerichtet, die sich mit der Rolle von Religion in (post-)säkularen Gesellschaften beschäftigt. Denn Religion sollte ein fester Bestandteil politischer Bildung sein.
Von Mahyar Nicoubin

1. Religionssensible politische Bildungsarbeit kann Synergien schaffen.
Ein religionssensibler Ansatz stellt die Narration des Defizitären von Religiosität in Frage und nimmt stattdessen ihr (positives) Potenzial hinsichtlich politischer Bildungsprozesse in den Blick, indem er fragt, inwieweit religiöse Kompetenz Impulse für das Politische geben kann. Hier sollte nicht primär im Präventionsbereich gedacht werden, es geht vielmehr darum, Verflechtungen von grundsätzlichen Themen wie Teilhabe, Streben nach Bildung, Gerechtigkeit etc. herauszuarbeiten, um zu erkennen, an welchen Stellen Konzepte und Ideen anschlussfähig sind und wo es Reibungspunkte gibt. In diesem Kontext ist es wichtig, dass Ansätze und Erkenntnisse aus der interkulturellen, interreligiösen und intersektionalen Bildung und Kommunikation berücksichtigt werden, auch im Sinne einer Qualifizierung politischer Bildner*innen. Ziel einer Auswertung des Potenzials religiöser Kompetenz ist es, Multiplikator*innen zu identifizieren und passgenaue teilhabeorientierte Formate sowie Inhalte politischer Bildung zu entwickeln, in denen gemeinsame Schnittmengen deutlich werden.

2. Problematisierung religiös-ethnischer Identitätszuschreibungen in der politischen Bildung hat das Potenzial, Raum für mehrdimensionale Narrationen gesellschaftlicher Vielfalt zu schaffen und neue Anknüpfungspunkte im Hinblick auf Zielgruppen und Inhalte zu bieten.
Politische Bildung, die alle Teile der Gesellschaft erreichen möchte, muss den dominanten gesellschaftspolitischen und medialen Diskurs, der mit religiös-ethnischen Identitätsmarkern operiert, wirksam hinterfragen und dabei zugleich selbstkritisch die eigene Sprache und Positionierung (in Produkten/Formaten) reflektieren. Das bedeutet unter anderem die Problematisierung von drei miteinander verwobenen Ebenen:
a) Verflechtung ethnischer Herkunft und religiöser Denomination an sich: Indem wir eine bestimmte Religion repetitiv mit einer bestimmten Geographie verknüpfen, entleeren wir diese „anderen“ Geographien ihrer religiösen Vielfalt und Geschichte. Zugleich trennen wir die Religion von der „eigenen“ Geographie, was eine Ausgrenzungsdynamik impliziert und Narrationen wie „Der Islam gehört nicht zu Deutschland/Europa“ begünstigt (ebenso „christlich geprägtes Abendland“, „christl.-jüdische Werte“ u. ä. Begrifflichkeiten).
b) Kulturalisierung gesellschaftlicher Herausforderungen und Probleme: Kulturalisierte, vorurteilsbehaftete Ursachenzuschreibungen und Deutungen bei konflikthaftem Verhalten oder bei kontrovers geführten gesellschaftlichen Debatten sollten als solche benannt werden. In diesem Kontext kann politische Bildung Deckdiskurse aufzeigen und stärker für soziale Zusammenhänge und Schieflagen im Kontext gesellschaftlicher Konflikte sensibilisieren. Kurzum: Die Religionsbrille als Erklärungsansatz für gesellschaftliche Herausforderungen sowie als Perspektive der Wissensgenerierung über Menschen sollte problematisiert werden, stattdessen ist eine Entzerrung von Kontexten, die nicht zusammengehören, nötig.
c) Negation von Vielfalt durch dominante Identitätszuschreibungen: Die Zuschreibung einer eindimensionalen, mit Religion verknüpften Identität (z. B. „Muslima“) ist mehrfach problematisch, da unter anderem die Frage der individuellen Identität und des eigenen Selbstverständnisses im Sinne von Vielfalt untergeht. Hier kann politische Bildung auch mit einer Sensibilisierung für Diversity im Sinne von Macht und Deutungshoheit der Mehrheitsgesellschaft ansetzen.

3. Politische Bildung kann das Wissen um die historische Dimension europäisch-nahöstlicher Verflechtungen stärken, um stereotype Bilder und Argumentationslinien zu durchbrechen und ein tieferes Verständnis für den Kontext (post-)kolonialer Machtverschiebungen und deren Folgen zu entwickeln.
Die engen historischen Verflechtungen Europas mit dem muslimisch geprägten Kulturraum insbesondere seit Ende des 19. Jahrhundert zeichnen ein spannendes Bild von Kulturkontakt und Identitätsbildung, das bislang wenig Raum im Wissensbestand im Sinne eines globalgeschichtlichen Ansatzes erhalten hat. Politische Bildung kann durch eine Stärkung um das Wissen wechselseitiger Beziehungsgeschichte Kontinuitäten und Brüche aufzeigen und deutlich machen, wie religiöse, politische, gesellschaftliche und kulturelle Konzepte miteinander verflochten waren und bis heute sind. Dies eröffnet neue Perspektiven auf Zusammenhänge und kann zu einer differenzierten Wahrnehmung der Vielfalt „eigener“ Geschichte und geopolitischer Machtverschiebungen führen.

4. Politische Bildung muss gesellschaftspolitisches Empowerment für alle konsequent denken, um dem Diversity-Ansatz gerecht werden zu können.
Wenn man den Teilhabe- und Empowerment-Gedanken gesellschaftspolitisch tatsächlich ernst nimmt, können marginalisierte religiöse Strukturen und Akteur*innen nicht davon ausgeschlossen bleiben. Politische Bildung sollte, etwa im Rahmen von Anerkennungs- und Fördermaßnahmen, aber auch bei Vorstößen aus dem politischen Raum, sensibel für Prozesse sein, die die Legitimität religiöser Träger in Frage stellen. Doppelstandards dürfen keinen Raum im Feld der politischen Bildung haben und es sollte genau hinterfragt werden inwieweit das Neutralitätsgebot hier auch als ein Schutzargument dienen kann, dem Ausschließungsprozesse folgen. Hierbei geht es auch um eine Problematisierung fachlicher „Berater*innen“ aus dem religiösen Spektrum für die Politik: Wer wird hinzugezogen? Wer gestaltet Entscheidungsprozesse und Argumente mit? Letztlich geht es hier um Integration aller und um Sichtbarmachung von Deutungs- und Gestaltungshoheit.


Mahyar Nicoubin ist Referentin im Fachbereich „Veranstaltungen“ der Bundeszentrale für politische Bildung. Ihr Arbeitsschwerpunkt ist die Rolle von Religion in postsäkularen Gesellschaften. Sie studierte in Friedrichshafen am Bodensee Kommunikation und Kultur und in Berlin Religion und Kultur. Sie arbeitet seit ca. 15 Jahren mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu den Themen Religion und Gesellschaft, gesellschaftlicher Zusammenhalt und Engagement und war in verschiedenen Bildungseinrichtungen tätig.

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