Guardini akut | Interview mit Oliver Gent

Guardini akut | KW 23/2020

Coronas Rhetorik

Ein Gespräch mit dem Romanisten und Rhetoriklehrer Oliver Gent über die Rhetorik der Krise und die Krise der Rhetorik
Von Patricia Löwe

Guten Abend! Ich habe Ihnen einen Titel wie „Rhetorik der Krise. Krise der Rhetorik“ erspart.

Sehr verbunden! Solche Überkreuzstellungen sind ja recht abgegriffen und derart gewollt rhetorisch, dass ich sie eher wirkungsarm, mithin unrhetorisch finde. Ihr Titel gefällt mir aber gut: „Coronas Rhetorik“ klingt nicht nur so, als gäbe es eine Art ‚Coronasprech‘, sondern hat auch diese schöne personifizierende Note, die sich beobachten lässt: Das Virus ‚quält‘ uns, es ‚hält uns auf Trab‘, wir müssen, als blockiere es morgens das Bad, ‚mit ihm leben‘ etc. Bei Ihnen spricht es eben.

Entfiele die Krise der Rhetorik.

Die Kunst der Rede hat auch die Pest überstanden! Krisengeplagt sind aber einige, die ihr Geld mit Rhetorik verdienen, etwa als Rhetoriktrainer*innen, Coaches oder Texter*innen. Unternehmen und Privatpersonen neigen in der Krise nicht dazu, sich den Luxus rhetorischer Beratung zu gönnen. Andere Nöte verdrängen so ein ‚Champagnerproblem‘. Viele Kolleg*innen berichten von einer besorgniserregenden Auftragslage. Das käme einer Krise der Rhetorik, also derer, die von ihr leben, vielleicht am nächsten.

Bleiben wir beim ‚Coronasprech‘. Diese Personifizierungen sind ein gutes Beispiel. Man trifft auch auf bestimmte Wendungen, die einem seit Beginn der Pandemie häufig begegnen: ‚Kampf gegen das Virus‘, ‚verantwortungsvolle Normalität‘, ‚Hygienekonzepte‘ …

‚Konzept‘ hört man wirklich ad nauseam. Berichte ich Freund*innen von meinem Frühstück, spreche ich manchmal scherzhaft von einem ‚Frühstückskonzept‘. Aber ja: Geht es von politischer Seite darum, den Ernst der Lage – ‚Kampf gegen das Virus‘ – oder die Notwendigkeit von Lockerungen – ‚verantwortungsvolle Normalität‘ – zu plausibilisieren, können solche watchwords, die refrainartig wiederholt werden, hilfreich sein. Oft überzeugt die Wiederholung selbst. Ähnlich in der Leitmetaphorik: Corona sei kein ‚Sprint‘, sondern ein ‚Marathon‘. Es gibt also, auf der niedrigsten rhetorischen Betrachtungsebene, ein recht typisches Sprechen, das mit dieser Krise aufkommt.

Welche ‚rhetorischen Betrachtungsebenen‘ gibt es denn noch?

Na ja, schon die alte Rhetorik ist eine umfassende Redelehre, die ein immenses System aufspannt. Da geht es nicht nur um das dröge Sterilgeklapper irgendwelcher Figurenlisten, die man aus dem Deutschunterricht kennt. Die Rhetorik überdacht zum Beispiel eine avancierte Argumentationstheorie, die lehrt, wie man Argumente findet, anordnet, ausstaffiert. Auf all diese Dinge könnte man die Coronadebatte hin befragen. Daneben ist sie natürlich eine Formulierungslehre; aber auch eine Gedächtnislehre und, das kennt man ja, eine Lehre des Sprechens: flüssige Artikulation durch angemessene Atmung und dergleichen mehr. Sie regelt aber auch, aus welchen Rollen heraus man sprechen kann und solcherlei.

Verschiedene Rollen sehe ich vielleicht bei der Bundeskanzlerin, die, fast ein wenig in Erfüllung des ihr zugeschriebenen Mutter-Klischees, zuerst Abstand anmahnt, dann enttäuscht ist, weil er nicht genügend eingehalten wird, zuletzt aber der Nation dankt.

Strenge und gütige Mutter?

Wenn Sie so wollen! Treffen Sie denn auch bestimmte Argumentationsstile an, die Sie für die Krise für typisch halten?

Einige. Ein recht dominanter dürfte der Autoritätenverweis sein, das argumentum ad verecundiam. Die Politik betont ja oft, dass sie nun auf die Expert*innen höre, mithin auf die Virolog*innen und Epidemiolog*innen. Das ist sehr wünschenswert, weil diese Autoritäten tatsächlich zielführende Expertisen aufweisen. Aber: Rhetorische Argumentation laboriert anders als philosophische Wahrheitssuche an Meinungswissen. Es gibt derzeit physisches und wirtschaftliches Sterben: Wie viel Sterben an welchem Pol der Skala zu viel oder zu wenig sei, lässt sich nicht eindeutig festsetzen, sondern ist auszuhandeln.

Auf wen anders aber als auf Virolog*innen und Epidemiolog*innen hören? Inwieweit ist solche Expertise ein Problem?

Die Expertise nicht. Expertise und Autorität müssen aber nicht in der Wahrnehmung aller zusammenfallen. Entsprechend beweglich ist der Autoritätenverweis. Sie sehen ja, dass das Schema recht frei unterfüttert werden kann. Jede zweite Verschwörungstheorie in den sozialen Medien wiederholt den Autoritätenverweis, lokalisiert die Expertise aber anders: Man sucht sich einfach eine andere, oft Halbexpertise, und fordert bspw. mehr Lockerungen. Das rhetorische Argumentationsschema ist identisch, nicht aber seine Indienstnahme.

Einen Wechsel des Argumentationsschemas kann man vielleicht bei Herrn Schäuble erkennen, der die Grundrechte stärker in Dialog bringt. Nur in der Würde liege ein absoluter Wert, der das Sterben nicht ausschließe.

Genau! Vieles in der Coronadebatte liegt darin begründet: Lässt sich das Recht auf Leben als der primäre Wert argumentieren und lassen sich alle getroffenen Maßnahmen aus dieser Argumentation ableiten? Oder aber: Wiegen andere Grundrechte stärker? Anders: Ist das ethische Argument ein Gesundheitsargument? Ich will das nicht entscheiden müssen, aber man sieht schon, dass sich ein bestimmtes Weltwissen, hier das Wissen um die Grundrechte, in Argumentationsschemata übersetzen lässt, denen verschiedene Plausibilitätsgrade bei verschiedenen Gruppen zukommen. Das ist wieder so eine rhetorische Sache: Dass wir über den R-Wert argumentieren, zeigt, wie Corona neues Weltwissen in Diskussionsstile übersetzt. Sie entschuldigen die Personifizierung?

Sicher, es war mein Titel! Sehen Sie so etwas wie einheitliche Krisenrhetorik? Vor einigen Wochen wies Lutz Lichtenberger in einem Interview darauf hin, dass der Coronadiskurs, auch in seiner medialen Vermittlung, größere Vielfalt anzeigt.

Da haben Sie recht! Auf Ihre Frage: ja und nein. Ich sehe diese Vielstimmigkeit, die Sie ansprechen, aber auch einige rhetorische Versatzstücke, die etwas übergreifender erscheinen. Auch glaube ich nicht, dass das Reden über Corona seit Anfang des Jahres zu jedem Zeitpunkt in vergleichbarer Art und Weise erfolgte.

Können Sie, wo wir inmitten der Krise sind, diese Phasen des Redens über Corona beschreiben?

Nicht so einfach, ich würde das auch nur als grobe Skizze versuchen: Vielleicht lassen sich – bisher – holzschnittartig vier Phasen festsetzen. Ich sehe als erste Phase eine Rhetorik des Ernstes: Laschet geht es ‚um Leben und Tod‘, Macron sieht sein Land ‚en guerre‘, im Krieg also – Ernst, Dekret, Verbot. Die zweite Phase wäre vielleicht eine emphatische von Zusammenhalt und Kreativität: Da wird für die Pflegekräfte geklatscht, rebellische Pubertäre tragen den alten Damen wieder den Einkauf vor die Tür, Universitätspräsident*innen verkünden ‚Kreativsemester‘ – Umschlag in den Euphemismus. Als dritte Phase sehe ich eine der Genervtheit, der Erschöpfung, zum Teil der Wut: Sie, Patricia, sprachen in einem Interview von der ‚genervten Coronamutter‘. Genervt sind auch Betreibende von Restaurants, Kneipen und Clubs – Rhetoriken des ‚Es reicht!‘. Die vierte Phase finde ich gefährlich.

Gefährlich?

Gefährlich! Corona wird jetzt, in diesem Moment, zum Trägermaterial für andere Diskurse: Eine fast vergessene AfD sucht Anschlussfähigkeit durch Kurzschluss des Coronaproblems mit eigenen Interessen. Verschwörungstheorien suchen den Anschluss über jeweils individuierte Auslegungen der Krise. Bestimmte Klientele entsenden regelrecht Fängerfiguren, die Frustgeplagten auf Krisendemonstrationen ihre Deutungen schmackhaft machen wollen. Corona ist dann ein Statthalter für alle Probleme, die wir auch vor der Krise hatten: Populismus, Wut, Radikalität. Corona kann in dieser vierten Phase gefährliche Rhetoriken in sich aufnehmen. Diese Phase zu navigieren, scheint mir die akute Aufgabe!


Oliver Gent unterrichtet Romanistik und Rhetorik an der Freien Universität Berlin. Derzeit arbeitet er an seiner Dissertation über die rhetorische Tropenlehre. Während der Coronakrise vertieft er nicht nur seine Forschungen, sondern hat auch seine Vorliebe fürs Kochen neu entdeckt.

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