Guardini akut | Mut angesichts der Endlichkeit

Guardini akut | KW 17/2020

Mut angesichts der Endlichkeit

Kann man sich selbst entdecken, indem man sich als Teil einer Gemeinschaft erkennt? Paul Tillichs Büchlein „Mut zum Sein“ ermutigt zur Solidarität angesichts der Pandemie.
Von Jasmin Mausolf

Wie bei den meisten von uns kreisen meine Gedanken in den letzten Wochen unweigerlich immer wieder um das „Kontaktverbot“, und an jedem Tag, an dem die Einschränkungen für das tägliche Leben andauern, stelle ich fest, dass ich mich trotz Social Distancing deutlich bewusster als Teil einer Gesellschaft wahrnehme. Ich bin nicht nur Familienmitglied, Freundin oder Mitarbeiterin, sondern Teil eines größeren Ganzen – eine Tatsache, die im Rausch der Bewegung des Alltags häufig untergeht.

Die nun folgenden Zeilen sind als freie und persönliche Gedanken zu einzelnen Teilen eines beeindruckenden und durch seinen Schneid bestechenden kleinen Büchleins zu lesen.

Der Autor des in meinem Regal leicht angestaubten Werkes heißt Paul Johannes Tillich. Tillich (1886–1965) war ein deutscher und US-amerikanischer Theologe, der seine Schriften zur Blütezeit der deutschsprachigen Theologie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert verfasste. In dem 1952 veröffentlichtem Werk „Mut zum Sein“ befasst sich Tillich mit verschiedenen Arten des Mutes.

Das Buch kam mir in den Sinn, während ich die immer lauter werdenden Stimmen sowohl aus dem Freundeskreis als auch aus Politik und Gesellschaft vernahm, die verständlicherweise die Beschneidung ihres Rechts auf Selbstbestimmung kritisieren. Denn wer weiß schon zu definieren, was der Einzelne zur freien Entfaltung seiner Persönlichkeit benötigt?

Die grundlegende Einsicht lautet: Der einzelne Mensch bestimmt sich immer auch darüber, was er in der Welt tut, wen er trifft, für was er sich engagiert und was ihm Halt bietet. Doch beschränkte Selbstbestimmung geht nicht unabwendbar mit drohendem Verlust der eigenen Identität einher. Sondern – und das ist mein Anliegen – der Mensch kann sich auch im Verzicht auf Andere und auf eine bisher bekannte Welt in seiner persönlichen Bestimmtheit erfahren und als der, der er selbst ist, bestätigen. An dieser Stelle sind die Gedanken Tillichs wegweisend.

Die unterschiedlichen Gestalten des Mutes sind in seinem Buch immer im Wesen des Menschen, also in seiner Seinskonstitution verankert. Die Überwindung der existenziellen Angst vor dem Nichtsein durch den Mut ist immer schon, nicht erst in Krisenzeiten, Teil des eigenen Seins. So vollzieht sich in der Selbstbejahung, vermittelt durch Gott als Grund des Ganzen, der Mut zum Sein.

Doch was kann so etwas wie Ja-Sagen zu sich selbst angesichts einer Pandemie, die die ganze Welt fest im Griff hat und zu erdrücken droht, bedeuten? Wäre nicht gerade in dieser Situation laut „Ich“ zu schreien pure Selbstsucht?

Jeder von uns ist, er, sie oder was man auch sein möchte, individualisiert und in der jeweiligen Bestimmung unwiederholbar frei im ontologischen Sinne. Die Möglichkeit zum Mut als Selbstermächtigung ist für Tillich nur gegeben, weil der Mensch das Außerhalb–seiner–selbst–Liegende kennt, die Familie, die Freunde, die Welt. Jeder unterliegt der Relation, die sich zwischen Selbst und Welt eröffnet, wobei sich diese Grundstruktur durch die Pole der Individuation auf der einen, und Partizipation auf der anderen Seite, veräußert. Partizipation meint in diesem Zusammenhang sich mit etwas, beispielsweise mit der Gesellschaft oder gar einer Weltgemeinschaft zu identifizieren, ohne jedoch mit dieser identisch zu sein. Nicht alles, was Gemeinschaften, an denen ich Anteil habe, tun, heiße ich gut, dennoch muss ich mich zu ihnen verhalten.

In der Differenz zwischen mir und den Anderen liegt so das Potenzial, mich zu bejahen, indem ich die Gemeinschaft als Teil meines Selbst wähle, um Ich–Selbst sein zu können.

Aktuell machen wir weltweit die Erfahrung der ganz realen Bedrohung durch das Nichtsein. Wir fürchten das Virus und seine verheerenden Auswirkungen. Unter dem Stichwort „Kontaktverbot“ sind wir gewissermaßen auf uns selbst zurückgeworfen; wir nehmen uns in Teilen aus einer Welt heraus, wie wir sie kennen, und entdecken zum Schutze Anderer die jeweils eigene Rolle im Geschehen einer Gemeinschaft. Sind wir also bedroht vom Nichtsein, so erweist sich der Mut zum Sein, Selbstsein zu dürfen, auch als der Mut der Bejahung Teil eines Ganzen zu sein.

Seien wir in diesem Sinne selbstbestimmt, indem wir Ja sagen zu Welt, seien wir mutig!

„Trennung ist nicht Entfremdung, Selbstzentriertheit ist nicht Selbstsucht, Selbstbestimmung ist nicht Sündhaftigkeit.“ (Paul Tillich, Der Mut zum Sein)


Jasmin Mausolf ist als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Interkulturelle Theologie und Religionswissenschaften an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität tätig. Sie studierte evangelische Theologie und Religions- und Kulturwissenschaften und plant derzeit ihre Promotion über Luigi Pareyson.

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