Guardini akut | „Herzzeit“

Guardini akut | KW 14/2020

„Herzzeit“

Lyrik neu gelesen: Paul Celans Gedicht mit dem Titel „Corona“ ist erschreckend gegenwärtig.
Von Michael Braun

„Wir stehen umschlungen im Fenster, sie sehen uns zu von der Straße. / […] / Es ist Zeit […], / daß der Unrast ein Herz schlägt“, heißt es in einem Gedicht von Paul Celan. Es gehört zur frühen Lyrik des 1920 geborenen Dichters, der auf dem Weg von Czernowitz über Bukarest nach Paris im Frühjahr 1948 in Wien strandete, zu Fuß, auf Schleichpfaden, als Flüchtling. Dort verliebte er sich in die sechs Jahre jüngere Ingeborg Bachmann, die in Wien Philosophie studierte. Beide litten daran, dass die Muttersprache als die Sprache der Mörder mitten unter ihnen stand. Celan hatte seine Eltern in den Todeslagern der Nazis verloren, Bachmanns Vater war Mitglied der NSDAP.

Der Unrast schlug ein Herz in den Wiener Wochen für das junge Liebespaar. Die Stadt war noch zerstört und in vier Sektoren geteilt, indes der Volksprater war gerade wiedereröffnet. Beide hatten gerade, vom Surrealismus beeinflusst, literarisch debütiert, in Zeitschriften, Bachmann mit der Erzählung „Die Fähre“, Celan mit der „Todesfuge“. Dieses Gedicht sollte sein berühmtestes und bekanntestes werden. Kein deutsches Gedicht war folgenreicher im 20. Jahrhundert, der Celan-Biograph John Felstiner nennt es das „Guernica der europäischen Nachkriegsliteratur“. Die „Todesfuge“ wurde Teil des Schulkanons, ist kontrovers interpretiert, von anderen Dichtern aufgenommen, von bildenden Künstlern gestaltet, vielfach vertont und übersetzt worden und hat es sogar in den Deutschen Bundestag geschafft, 1988, als es die Holocaust-Überlebende Ida Ehre zum Gedenken der Pogromnacht von 1938 vortrug. Celan jedoch hat sich früh von seinem Gedicht distanziert. Er fand es „lesebuchreif gedroschen“. Es erschien ihm missverstanden von den Zeitgenossen, die meinten, wenn die Rede auf Celan komme, würden die Kritiker „das Gesicht verziehen wie die Messdiener vor dem Altar“ (Hans Egon Holthusen). Auch von Ingeborg Bachmann fühlte er sich nicht gehört, sie habe ihn, heißt es, nicht unterstützt, als er das Gedicht im Mai 1952 vor der Gruppe 47 in Niendorf an der Ostsee vorlas und ein Mitglied dieser Literaturgruppe ihn rügte, er lese ja „wie Goebbels“.

Celans Lyrik gilt oft als dunkel, als schwer verständlich, und der Dichter hat selbst zugestanden, dass seine Gedichte „dunkel zur Welt“ kommen. Doch sie behelligen unsere Zeit auf eine ganz besondere Weise. So wie die „Todesfuge“ eine eigentlich unmögliche Rede an die Toten und mit den Toten möglich macht, ein Ruf aus „jüdischer Einsamkeit“, wie Thomas Sparr in seiner soeben erschienenen Biographie des Gedichts schreibt, so sind die Verse aus dem eingangs zitierten Gedicht Lichtblicke in eine Notstandsgesellschaft, die für ein Miteinander in Ausnahmesituationen unbedingt auch der Perspektive des jeweils anderen bedarf. Das bedeutet, wenn man es weiterdenkt, Solidarität in Freiheit zu praktizieren, wenn diese eingeschränkt ist, und der entschleunigten Vernunft ein Herz zu geben, „geteiltes Wissen und Mitwirkung“, wie es die deutsche Bundeskanzlerin am 18. März 2020 gesagt hat.

„Es ist Zeit“, so endet dieses Gedicht „Corona“ von Celan, das in seinem Band „Mohn und Gedächtnis“ (1952) unmittelbar vor der „Todesfuge“ steht. Es ist ein Solidaritätsgedicht für unsere Zeit, ein Gedicht, das einen Akut setzt: ein Lesezeichen fortdauernder Gegenwärtigkeit.

Das Gedicht „Corona“ können Sie hier nachlesen: Paul Celan: Gesammelte Gedichte. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag.


Prof. Dr. Michael Braun studierte Germanistik und Katholische Theologie. Seit 1992 ist er Leiter des Referats Literatur der Konrad-Adenauer-Stiftung und seit 2005 apl. Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität zu Köln. Der Guardini Stiftung ist er seit Jahren verbunden, aktuell durch sein Engagement im Fachbeirat Literatur.

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