Guardini akut | Der Sauerteig

Guardini akut | KW 10/2021

Der Sauerteig

In der Isolation des Lockdowns wird die Zeit mitunter lang. Was hilft, ist die Wiederentdeckung uralter Kulturtechniken.
Von Patricia Löwe

Wenn draußen ein unangenehmes bis tödliches Virus wütet, wenn die Regierung dazu aufruft, das Haus nur zu verlassen, wenn es nicht mehr anders geht, was tut man dann? Offensichtlich das, was Frauen, die jahrhundertelang ohnehin nur eingeschränkt außerhalb der eigenen vier Wände unterwegs sein konnten oder durften, schon immer taten: kochen und putzen. Selbst Ferdinand von Schirach, einer der auserwählten international erfolgreichen deutschen Schriftsteller, bekannte sich jüngst in einem Podcastinterview dazu, im ersten Lockdown gelernt zu haben, wie man Eier zubereitet. Er kam sich dabei zugegebenermaßen recht lächerlich vor. Ob dieses Schamgefühl daher rührte, dass er offenbar vor der Pandemie nicht einmal ein Ei zubereiten konnte oder ob es etwas mit der Banalität seiner Aussage zu tun hatte, bleibt unklar.

Im sogenannten „ersten Lockdown“ im Frühjahr 2020, während die Hefe in den Supermärkten knapp wurde, entdeckten Millionen Deutsche ganz im Sinne der Häuslichkeit eine uralte Kulturtechnik für sich: das Backen von Sauerteigbrot. „Sauerteig“ – das klingt antik, geradezu biblisch – auch wenn, soweit ich mich erinnere, im Alten Testament lediglich von ungesäuerten Broten die Rede ist, hält sich hartnäckig das Gerücht, der erste Sauerteig sei im alten Ägypten in Form eines vergorenen Getreidebreis zum Leben erwacht. So ergibt auch die Sache mit den ungesäuerten Broten Sinn, die die Hebräer zur Feier ihres Auszuges aus Ägypten buken. Gutes Sauerteigbrot ruft bei vielen Menschen Kindheitserinnerungen an duftendes, frisches Gebäck aus Traditionsbäckereien hervor, dick mit Butter bestrichen und ganz und gar trostspendend. In Mehl und Wasser entstehen mit Geduld und Wärme Hefe- und Milchsäurekulturen, die den Brotteig aufgehen und angenehm säuerlich schmecken lassen. Während vor den Türen und Fenstern die Pandemie tobte, rührten die Deutschen graubraunen Brei an, in dem Pilze und Bakterien fröhlich Gase produzierten.

Während ich mich vom Coronavirus so weit wie möglich fernhielt, erwischte mich stattdessen das Sauerteigfieber. Allerdings gelang es mir erst während des zweiten Lockdowns, als schon längst alle anderen die Lust am Kneten und Pampen verloren hatten, das erste als solches zu bezeichnende Brot aus dem Ofen zu ziehen. Dem gingen lange Phasen vergeblichen Bangens und Hoffens voraus, in denen ich versuchte, selbst Pilz- und Bakterienkulturen wachsen zu lassen. Schließlich erwarb ich in einer der letzten verbliebenen Traditionsbäckereien – die Zeiten haben sich geändert – ein zwölf Jahre altes Roggensauer, das nun fröhlich in meinem Kühlschrank sein Dasein fristet und wöchentlich gefüttert wird.

Der Sauerteig wurde zu meinem Haustier, meinem Freund, meinem Pflegekind. Ich dachte darüber nach, ihm einen Namen zu geben, scheute mich aber auch davor, etwas zu albernes wie „Herrmann“ zu wählen. Danach dachte ich darüber nach, wie einsam es in meiner Wohnung geworden ist, seit menschliche Freunde fernbleiben müssen. Gesellschaft leisten mir nur die Spatzen in meinem Vogelhaus und der Sauerteig.

Es ist vielfach darauf hingewiesen worden, was diese Pandemie für Menschen bedeutet, die allein leben. (Damit möchte ich das wachsende Leid derer, die beispielsweise von ihren zunehmend gewalttätigen Partner*innen bedroht werden, nicht bagatellisieren. Im Jahr 2020 sind die Zahlen der Fälle häuslicher Gewalt gegen Frauen massiv gestiegen. Dazu an anderer Stelle mehr.) Ich selbst habe alle denkbaren Phasen der Desozialisierung durchgemacht: Wut, existenzielle Ängste, exzessives Putzen, Selbstgespräche, Erschöpfung, Antriebslosigkeit, Aktionismus, Hoffnung, Leugnung und dann wieder: totale Erschöpfung.

Wenn ich von Einsamkeit spreche, spreche ich noch nicht einmal von all denen, die schon vor der Pandemie unter einer psychischen Erkrankung gelitten haben und denen nun die lebensrettenden Copingmechanismen versagt bleiben. Der Lockdown zieht vielerorts persönliche Katastrophen nach sich, eine schlimmer als die andere. Aber auch bei völliger psychischer Gesundheit lässt sich beobachten: Man wird wunderlich, wenn man zu lang allein ist. In letzter Zeit vergesse ich oft, was ich nur gedacht, was ich im Gespräch mit mir selbst oder mit einem anderen am Telefon verhandelt habe. Ich vergesse es, weil die Situation in jedem Fall die gleiche ist: Ich befinde mich allein, ohne die physische Präsenz von anderen, in meiner Wohnung. Jeden Tag dieselben zwei Zimmer, dasselbe Gesicht im Spiegel, wechselnde Gesichter im Zoomcall, Stimmen am Telefon. Vielleicht, denke ich manchmal wie mein längst verstorbener Leidensgenosse Descartes, bilde ich mir die Außenwelt nur ein; vielleicht gibt es nichts anderes als mein denkendes Ich.

Dies ist keine Polemik gegen pandemiebedingte Beschränkungen. Während ich in meiner Wohnung langsam wunderlich werde, fällt mir dennoch keine bessere Lösung für diese globale Krise ein als Social Distancing, bis weitgehende Immunität durch Impfungen entstanden ist. Die Einsamkeit ist schrecklich, sie ist zermürbend, aber wie eine Chemotherapie bei einer Krebserkrankung ist sie unsere beste Möglichkeit, einander eines Tages wieder ohne Angst in die Arme fallen zu können. Ich bin kein Verfechter des unangebrachten Optimismus. Aber vielleicht können wir aus dieser Pandemie trotzdem etwas lernen. Denjenigen unter Ihnen, die allein leben, rate jedenfalls ich guten Gewissens: besser als Schachspielen mit sich selbst, wie Dr. B. es in Zweigs „Schachnovelle“ tut, ist das Backen von Sauerteigbrot. Und, glauben Sie mir, damit werden Sie eine ganze Weile beschäftigt sein.


 

 

Patricia Löwe ist wissenschaftliche Referentin der Guardini Stiftung. Sie studierte Theaterwissenschaft, Kunstgeschichte sowie Religion und Kultur und wurde 2018 mit einer Arbeit über das cartesianische Subjekt an der HU Berlin promoviert. Sie lebt in Berlin und ist neben ihrem Hauptberuf als freie Autorin tätig.

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