Ökumenische Vesper zur Jahrestagung 2019 | Ansprache

28. Juni 2019 | 19:00 Uhr | Kirche St. Ansgar am Hansaplatz

Ökumenische Vesper zur Jahrestagung 2019 | Ansprache

Pfr. Hannes Langbein

Liebe Vespergemeinde,

„Mein Freund ist weiß und rot, auserkoren unter vielen Tausenden. Sein Haupt ist das feinste Gold. Seine Locken sind Rispen, schwarz wie ein Rabe. Seine Augen sind wie Tauben an den Wasserbächen, sie baden in Milch und sitzen an reichen Wassern.“

Liebe Gemeinde, was sind das für Sprachbilder? – Ich muss Ihnen sagen: Für mich gibt es wenige biblische Bücher, die mich so in den Bann ziehen wie das Hohelied Salomos. Ein Buch, das im Grunde aus nichts anderem besteht als aus einem Bilderstrom: Die Sprachbilder quellen nur so. Die Bildbeschreibungen der Liebenden, die durch die Straßen Jerusalems ziehen, nehmen kein Ende: Die Liebenden besingen sich in den buntesten Farben. Hätte es den Begriff „Stream of Consciousness“ damals schon gegeben, würde man vielleicht von diesem Stilmittel reden: Das nicht enden wollende Quellen und Treiben der Bilder, von denen eines das andere ablöst, ins nächste führt, beinahe ohne Punkt und Komma…

„Mein Freund ist weiß und rot. Sein Haupt ist das feinste Gold. Seine Locken sind Rispen, schwarz wie ein Rabe. Seine Augen sind wie Tauben an den Wasserbächen, sie baden in Milch und sitzen an reichen Wassern.“

Dabei weiß man nie so recht wo man sich eigentlich gerade befindet: in einem großen Liebesgedicht, einer Erzählung oder einem Drama? – Sind wir in Jerusalem, der Stadt Salomos, unterwegs oder in einer Traumwelt, die überall und nirgends sein könnte? –  Von wem handelt der Gesang eigentlich? – Von zwei Liebenden, die sich in den nächtlichen Gassen Jerusalems suchen und finden? Oder geht es um mehr: etwa um das Beziehungsspiel zwischen dem Gott Israels und seinem Volk oder gar um das prekäre Verhältnis Christi zu seiner Kirche?

Generationen von Theologen haben sich darüber den Kopf zerbrochen. Fest steht jedenfalls, dass wir es mit einem hoch mehrdeutigen Stück Literatur zu tun haben: Bis heute ist nicht ausgemacht, ob wir es eigentlich mit einem Stück weltlicher Liebeslyrik zu tun haben oder mit einer anspruchsvollen theologischen Schrift, die das Verhältnis zwischen Gott und Welt in einem dynamischen und ästhetischen Miteinander entfaltet.

Kein Wunder, dass lange umstritten war, ob das Buch in den biblischen Kanon gehört. Insbesondere in der jüdischen Theologie war immer wieder die Frage, ob es sich beim Hohelied überhaupt um eine religiöse Schrift handele. Nicht umsonst musste das Hohelied mit dem Zusatz „Hohelied Salomos“ autorisiert werden, weil es sich für manche Ohren eben nicht selbstverständlich in den biblischen Kanon einpasste.

Am Hohelied schieden und scheiden sich jedenfalls die Geister, weil es in keines der Genres – Lied, Dichtung, Erzählung, religiöse oder weltliche Literatur – so recht passen will. Dabei könnte man auch sagen: Wie könnte das auch anders sein? Wie könnte es anders sein, wenn wir es doch mit der Liebe zu tun haben. Und wenn wir es darüber hinaus nicht nur mit der Liebe, sondern auch mit der Kunst und mit dem Glauben zu tun haben? Lässt sich bei einem Gebet auf den ersten Blick sagen, ob  es sich um ein Gebet oder um ein Gedicht handelt? Und lässt sich im Gespräch der Liebenden immer schon sagen, auf welcher Ebene der Realitäten sie sich gerade bewegen?

Vielleicht kennen Sie das schöne Buch von Birgit Vanderbeke: „Alberta empfängt einen Liebhaber“? – Dort geht es um ein junges Paar, das sich im Gespräch miteinander seine ganz eigene Sprachwelt schafft, indem sie die Dinge fortwährend neu benennen: Da wird etwa der erste Kuss auf einer Demonstration gegen den Vietnamkrieg sprachprägend, weil „Küssen“ fortan nur noch „gegen den Vietnamkrieg protestieren“ heißt. „Komm, wir demonstrieren gegen den Vietnamkrieg!“, heißt es dann – und so geht es immer weiter bis sich ein ganz eigenes Vokabular entwickelt, in das der Leser wie im Vorbeigehen mit eingeführt wird. Am Ende versteht man die ansonsten kaum verständliche, hoch mehrdeutige Sprache der Liebenden, weil man ihre Geschichte und damit ihr Referenzsystem kennt.

Der französische Soziologe Bruno Latour hat das in seinem Buch „Jubilieren“ einmal als ein Spezifikum der „Sprache der Liebenden“ beschrieben: Dass sie sich nicht der Sprache der „Information“ bedienen, die sich in einem bereits existierenden Sinn-System bewegt. Sondern, dass sie in eine Sprachform hineingehen, die ihren Sinn erst noch finden muss, deren Sinn nicht von vorneherein feststeht. Die „Sprache der Information“ beruht laut Latour auf einem fest definierten und letztlich entschlüsselbaren System von Bedeutungen und Zuschreibungen, das in sich verständlich und übersetzbar ist. Die Sprache der Liebe hingegen schafft ihren Bedeutungshorizont selbst, indem sie die Bedeutungen ihrer Vokabeln aus ihrem ganz eigenen und spezifischen Erfahrungshintergrund entwickelt.

Im Hohelied ist das ganz ähnlich, wenn sich die Liebenden mit immer neuen Bildern und Zuschreibungen konfrontieren: Im Hohelied lässt sich förmlich erleben wie das geschieht, dass sich zwei Menschen aus ihrer Zuneigung heraus eine eigene Sprachwelt schaffen: „Seine Arme sind wie goldene Stäbe, voller Türkise. Sein Leib ist wie aus Elfenbein, mit Saphiren geschmückt. Seine Beine sind wie Marmorsäulen, gegründet auf goldenen Füßen. Seine Gestalt ist wie der Libanon, auserwählt wie Zedern. So ist mein Freund, so ist mein Geliebter, ihr Töchter Jerusalems!“

„Jubilieren“ nennt das Latour – und meint das überschwängliche Lob Gottes, das in seinem Überschwang die Sprache über sich hinaus treibt: „Lobet ihn mit Pauken und Reigen, lobet ihn mit Saiten und Pfeifen! Lobet ihn mit hellen Zimbeln, lobet ihn mit klingenden Zimbeln! Alles, was Odem hat, lobe den HERRN! Halleluja!“ – „Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über“. Wer einmal begonnen hat zu loben, der schert sich nicht um Ausgewogenheit und Maß, der wird am Ende vielleicht sogar Laute ausstoßen, die keinerlei Semantik mehr folgen. Das Lallen und das Halleluja…

Es ist schon klar, dass diese Art von Liebespoetik nicht überall hoch im Kurs stehen kann: Dogmatiker werden sich nach  der Präzision der Zuschreibungen fragen, Ethiker nach der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit und Vermittelbarkeit. – Vor einigen Jahren war auch im interreligiösen Dialog mit einem Wort von Wolfgang Huber die Rede von „Klarheit und guter Nachbarschaft“,  weil Dialog immer nur dann möglich sei, wenn beide Seiten einen klaren Blick für ihre jeweils eigene Identität haben. In der Politik ist aktuell immer wieder die Rede von „klarer Kante“ und „klaren Profilen“, die für mehr Trennschärfe und Erkennbarkeit der Parteien sorgen sollen.

Es gibt eine weit verbreitete Sehnsucht nach Eindeutigkeit, nach klaren Botschaften. Und da ist ja auch etwas dran. Vielleicht leben wir aktuell in Zeiten, in denen es klare Ansagen und unmissverständliche Positionierungen braucht, weil sich hinter Mehrdeutigkeiten immer auch Unentschiedenheiten verstecken können – wir denken an die Diskussion über den Umgang mit der AfD und rechtspopulistischen Tendenzen…

Umso mehr müssen wir darauf achten, dass Bereiche bleiben, in denen die Schönheit des Mehrdeutigen auch weiterhin eine Rolle spielen kann. Umso mehr müssen wir darauf achten, dass wir die Schönheit des Subtilen und Komplexen, des Vielfarbigen und des Schillernden nicht aus dem Blick verlieren, weil sich von dorther unsere Sprache und unsere Beziehungen erneuern. „Klar“ ist die Sprache der Information. „Mehrdeutig“ ist die Sprache der Poesie, die Wirklichkeit schafft. Vielleicht steckt darin auch der eigentliche Kern künstlerischer Arbeit und vielleicht steckt darin zugleich auch der eigentliche Kern einer religiösen Haltung: dass beide einen bleibenden Sinn für die erneuerbaren Energien unserer Sprache und unserer Ausdrucksformen haben. Deshalb sollten auch die Künste in den gesellschaftlichen Debatten eine Rolle spielen. Weil die Künste einen Sinn für die Vielschichtigkeit und Mehrdeutigkeit unserer Wirklichkeit haben, der sich in anderen gesellschaftlichen Bereichen so nicht findet und möglicherweise auch bewusst nicht findet.

Seit einigen Jahren gibt es an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität die interreligiöse Dialogreihe „Zu den Quellen – Ästhetik der interreligiösen Begegnung“. Dort geht es genau um die Frage: Ob die Künste neben den dogmatischen und ethischen Dialogebenen zwischen den Religionen einen eigenen Beitrag leisten können, weil sie eben mehr oder weniger bewusst mit den Dimensionen des Mehrdeutigen und Vielschichtigen arbeiten: Was geschieht, wenn sich künstlerische Ausdrucksformen der verschiedenen Religionen begegnen? Was geschieht, wenn eben nicht im Vorfeld definiert und bestimmt wird wer wer ist und wer wo steht? Sondern wenn sich erst im Prozess des künstlerischen Dialogs, im Hören und Sehen, herausbildet, wer wer ist und wer wo stehen könnte.

Hesen Kanjo, der uns in diesem Gottesdienst musikalisch begleitet, hat uns mit in diesen Prozess hineingenommen. Jedenfalls öffnet er musikalisch ein Feld, indem er mit Stücken unterschiedlicher religiöser Herkunft auf einem aus dem arabischen Raum stammenden Instrument, dem „Kanun“ arbeitet. – Das Spannende dabei ist, dass sich das Instrument selbst in gewisser Hinsicht im Unentschiedenen bewegt, weil seine Stimmungen im Laufe der Zeit immer wieder umstritten waren, sein Name zugleich aber vom griechischen „Kanon“ herrührt, dem „Maß“, der „Richtschnur“. Wir haben vorhin beim Hohelied gesehen, wie umstritten die Fragen des Kanons werden können, wenn wir uns in den vieldeutigen Klängen der Poesie bewegen. Uns kann das nur guttun. Amen.


 

Ökumenische Vesper zur Jahrestagung 2019 | Ansprache – Guardini Stiftung e.V.
Ökumenische Vesper zur Jahrestagung 2019 | Ansprache – Guardini Stiftung e.V.

 

 

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