Guardini akut | Von der Erkenntnis der eigenen Endlichkeit

Guardini akut | KW 27/2020

Von der Erkenntnis der eigenen Endlichkeit
Römische Notizen

Von Gabriel von Wendt LC

Juni – Ein Rückblick

Während viele Bürger zu Helden an den Fronten des Gesundheitssystems wurden, Experten aus Medizin und Wirtschaft unter größter Anstrengung Vorschläge erarbeiteten und Politiker vor den schwersten Entscheidungen ihrer Amtszeit standen, gehöre ich in Rom zu denen, die seit vier Monaten das Grundstück nicht mehr verlassen haben. Meinen Doktorvater freut das, denn so kann ich mich endlich meiner Arbeit über Romano Guardinis Anthropologie widmen.

Sicher ist es diesem Fokus geschuldet, dass ich mir statt der ökonomischen und soziologischen Betrachtungen vor allem die Frage stelle, was die gegenwärtige Krise für den Menschen selbst bedeuten mag. Konfrontiert uns die Pandemie doch mit dem, was wir im Alltag gerne ausklammern: mit unserer Verwundbarkeit, Sterblichkeit, Endlichkeit. Gesellschaftlich müssen wir v. a. unser „System“ solidarisch und pragmatisch anpassen. Aber persönlich stehen sicher viele vor der Herausforderung, die Erkenntnis der eigenen Endlichkeit in ihr Selbstbild zu integrieren. Eine solche Krise muss mich zu Guardinis Gedanken führen:

Am Wort ‚Krise‘ ist großer Verbrauch. […] Nur muß man das Wort in seinem vollen Sinn nehmen. Dann meint es nämlich ein Doppeltes: Einmal, daß die Dinge nicht mehr stimmen, der Zustand auf ein Unheil zugeht. Andererseits aber auch, daß darin schon lang wirkende Fehler ans Licht treten; sie also erkannt werden können und mit der Überwindung begonnen werden kann.“ (Ethik, 1041)

März – Der Schreck darüber, dass „die Dinge nicht mehr stimmen“

Einmal habe ich das Grundstück übrigens doch verlassen. Mit gespenstischer Scheu bewegten sich die Menschen durch die Supermarktregale. Das sonst unüberhörbare Geschnatter an der Kasse war verschwunden. Stattdessen wichen nicht nur die Einkaufswagen einander weiträumig aus, sondern auch die Blicke derer, die sie erschreckt durch eine neue Welt schoben. Uns hat ein gewaltiger Schreck befallen. So wie ihn Lew Tolstoi 1886 im Tod des Iwan Iljitsch(Berlin 2002) beschrieben hat:

Iwan Iljitsch sah, daß er dem Tod verfallen war und befand sich in beständiger Verzweiflung. Im Grunde seiner Seele wußte er, daß er sterben mußte, aber es war ihm nicht möglich, sich an den Gedanken zu gewöhnen, er begriff es einfach nicht, konnte es durchaus nicht fassen. […] ‚Und es kann nicht sein, daß ich sterben muß. Das wäre zu schrecklich.'“ (87f)

Solch ein Schrecken saß uns in den Knochen. Eben noch hatten wir uns so sicher gefühlt, nun verstanden wir uns auf einmal selbst nicht mehr. Wie Iwan:

„‚Und nun dies! Es kann nicht sein! Es kann nicht sein und ist doch. Wie denn? wie soll man das verstehen?‘ Und er konnte es nicht verstehen und bemühte sich, diesen Gedanken wie etwas Falsches, Unnormales, Krankhaftes zu verscheuchen und ihn durch andere normale, gesunde Gedanken zu verdrängen. Aber dieser Gedanke – er war nicht nur ein Gedanke, sondern gleichsam die Wirklichkeit selbst – tauchte von neuem auf und stand ihm vor Augen.“ (Ebd.)

Iwan lag im Sterben. Die erschreckende Nähe des Todes warf neues Licht auf sein Leben. Der Schrecken erschütterte nicht nur seinen Alltag, sondern sein Selbstbild. Mehr als 10.000 Menschen starben in Italien im März mit Covid-19. Dabei wurden aber noch weit mehr von uns aus dem Alltag herausgerissen und mit unserem Selbstbild konfrontiert. „Es kann nicht sein und ist doch.“

Der Mensch wird an seine Sterblichkeit erinnert. Das fordert ihn existentiell heraus – besonders heutzutage, da wir uns doch i. d. R. so sicher fühlen – und er fragt sich wie Iwan Iljitsch: Wer bin ich? Wenn diese Sterblichkeit näherkommt, versetzt uns das natürlich in Schrecken. Das war den Menschen im März sogar beim Einkaufen anzusehen.

April – Stille, in der „schon lang wirkende Fehler ans Licht treten“

Die Ewige Stadt hüllte sich in Stille. Die Via Aurelia rauschte nicht, die Bahngleise hinter den Pinien hatten aufgehört zu kreischen. Und so wie sich Füchse und andere Kulturfolger plötzlich in die leergefegten Einkaufsstraßen trauten, so regten sich in der Stille des „Lockdown“ scheue Gedanken. Vielleicht müssen wir „schon lang wirkende Fehler“ korrigieren?

Die erschreckende Frage „Wer bin ich?“ deklinierte sich langsam zu handfesten moralischen Betrachtungen. „Vielleicht muss ich meine Prioritäten sensibler setzen; den kranken Menschen barmherziger begegnen; meine eigenen Eltern oder Großeltern öfter anrufen…“ Wenn wir tatsächlich verwundbar, sterblich, endlich sind, müssen wir uns vielleicht völlig neu verstehen. Vielleicht sind die Werke der Barmherzigkeit (vgl. Mt 25,34-46) mehr als ein karitatives Mission Statement. Vielleicht sind sie die Weise, wahrlich Mensch zu sein.

Ja, eine Krise kann immer Anlass sein, reifer, sensibler, barmherziger zu werden.

Treten die verschiedenen Existenzformen […] nicht in Krisen hervor, die man ebenfalls als ‚Krankheiten‘, wenn auch als funktionell notwendige ansprechen muß? Und gibt es nicht Tiefen des Erlebens, Verfeinerungen der Sensibilität, Reifestufen der Persönlichkeit, die nur im Leiden zum Vorschein kommen, und dem Gesunden einfachhin verschlossen bleiben?“ (Ethik, 971)

Mai – Darum ringen, dass „mit der Überwindung begonnen werden kann“

Der Anspruch nach einer schnellen Lösung wich der Losung „zu lernen, damit umzugehen“. Die Gesellschaft begann das noch andauernde Ringen um die richtigen Maßnahmen. Gleichzeitig ist zu hoffen, dass auch die in Schrecken und Stille provozierten Gedanken über unser Menschenbild weitergehen. Lernen, mit Krankheit und Sterblichkeit umzugehen: was bedeutet das anderes, als uns Menschen neu zu verstehen?

In einem letzten Sinn ist das gesund, was zu vollerem Menschsein führt; krank hingegen, was daran hindert. Dieser Grundbegriff ist aber ein wesentlich anderer, als der übliche naturalistische. Er bezieht den Geist und sein Werk ein; die Person und ihre Reifung; das Schicksal und das Bestehen in ihm. Mit diesem Begriff betreten wir den Bereich des eigentlichen Ernstes, nämlich des Ernst-Machens mit dem, was es heißt, Mensch zu sein.“ (Ebd., 972)


Pater Gabriel von Wendt LC ist Mitglied der Ordensgemeinschaft der Legionäre Christi. Er ist Doktorand und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für philosophische Anthropologie an der Päpstlichen Hochschule Regina Apostolorum in Rom. Besonders interessiert ihn das Werk Romano Guardinis und die damit verbundenen Themenfelder Katholische Weltanschauung, Kulturphilosophie und menschliches Werden. Er predigt regelmäßig im Rahmen der Theologischen Predigtreihe der Guardini Stiftung.

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