Guardini akut | Verwunschenheitszustand

Guardini akut | KW 12/2021

Verwunschenheitszustand

Drei von einhundert Gedichten aus dem Band „Verwunschenheitszustand“
Von Michael Speier

QUASI NON POSSIDENTES

als ob wir nicht die besitzenden wären
reiten wir über den deich, komponieren quartette
für schafstimmen, schafsköpfe, sopranschafe
klarinettenschafe, dudler und zitterer, wer möchte leben
ohne den trost der schafe, ihr zotteln, trotten
vergnügtes glotzen, ganz zu schweigen vom lümmeln
in hanglage (ließe sich dasein besser beschreiben?)
wir (d.h. nicht eigentlich wir) ihre besitzer mögen sie
scheren, schächten sie aber harren in ihrem kosmos
aus knabbern und pinkeln mit dem über allem
thronenden gott der gleichmut und der wolle

TAXIS & VULKANE

der popocatépetl, eine danteske rauchwolke entlassend, die bis
in flughöhe 230 aufsteigt, während ich (oder ich) im taxi in trance falle,
meine anhaftung an die welt nachlässt, wirklichkeit sich an mich klammert
wie ein greis an die junge pflegerin (calor humano). wir fahren aus der zeit
heraus, steuern unsere herz-hypnosen, dunkel der abgrund unter uns, die
kochende kugel. und vulkanasche, die irgendwo ein fernes blatt bestäubt,
wenn der fahrer (ein gott) sein navi befragt. irgendwann kommt immer
der letzte tag für etwas, steht ein ausbruch bevor oder das wirken des
rundäugigen mondes. aber: ein taxi ist keine ontologie, in kurven quietscht
die axis mundi, schwerkraft nur eine wölbung im raum-zeit-gefüge.
papaya, ihr fleisch, karmesin wie lava, die den berg hinabrutscht
wie das immer weniger an verwendbarer zeit ausglüht und erlischt.
ich gleite im fond, stabil im unhaltbaren, in unverlassenheit.

BEI ZEMUSKE POLE

hängt eine frau wäsche zum trocknen auf
zwei männer laufen im morgennebel  über die wiese
auf einem schild ein raubvogel

elstern zwinkern im südwind
im dämmer neben dem gleis
tänzelnde plastiktüte

wochen später fällt es dir wieder ein
auf dem bahnsteig die liebenden
wie sie umarmt davonstieben
hängenbleiben im flusensieb des erinnerns

Aus: Verwunschenheitszustand. 100 Gedichte, Aphaia Verlag, München 2020


 

 

Der Autor, Übersetzer und Literaturwissenschaftler Michael Speier lebt in Berlin. Er veröffentlichte bisher zehn Gedichtbände, mehrere Lyrik-Anthologien sowie Übertragungen zeitgenössischer Poesie. Zudem ist er Gründer und Herausgeber der Lyrikzeitschrift „Park“ und des Paul-Celan-Jahrbuchs. Seit vielen Jahren wirkt er im Fachbeirat Literatur der Guardini Stiftung mit.

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