Guardini akut | Uckermärkische Notizen

Guardini akut | KW 19/2020

Uckermärkische Notizen

15 / III / 2020
Seltsam, wie schnell die fluide, supermobile Gesellschaft durch einen epidemischen Krankheitserreger zum stationären Leben gefunden hat. In Berlin sind die Straßen leer, man geht sich aus dem Weg, als hätte man ein Schweigegelübde abgelegt und suchte nach nichts so sehr als Einkehr. Die verordnete ordenhafte stabilitas loci – our connected disconnectivity. Offenbar reicht ein wenig Lebensangst, den Zivilisationsmodus radikal zu verändern.

18 / III / 2020
Rausgefahren in die uckermärkische Datscha. Vom Schreibtisch aus beobachte ich die Nebelkrähe, wie sie im Garten den Schnabel am Kirschbaumzweig wetzt. Eine zweite zupft Moos vom Schuppendach. Den ganzen Tag schon gräbt das Motorengeräusch eines Baggers das Gedächtnis um. Keine Ereignisse. Regen nur, der quertreibt.
Autokennzeichen werden verdächtig.

22 / III / 2020
Die Ansteckung stellt die Form von Verletzlichkeit dar, wie sie der globalisierten Welt entspricht. Kontakte sind jetzt weitgehend verboten, die Menschen in ihre Wohnungen verbannt. Die Zahl der Ereignisse hat drastisch abgenommen. Die Rasanz des Lebens ist in einen schläfrigen Standby-Modus versetzt, die unablässig bewegten sozialen Mengen in Vereinzelungen aufgelöst. Nur das Notwendige darf verrichtet werden. Jeder hat zum anderen Distanz zu wahren und in hohem Maß allein mit sich zurechtzukommen. So ungefähr könnte ein nationales Klosterleben aussehen. Exerzitien der Weltenthaltung. Ich halte es für möglich, dass diese Zeit zu einer epochalen Unterbrechung wird, in der Relevanzen und Aufmerksamkeiten neu geordnet werden.

25 / III / 2020
Heute ein erster dieser blutverdünnenden, antigraven Tage, mit dem man den höheren Bogen der Sonne im Wechselspiel von Fleisch und Bewusstsein spürt. Der Nachmittag ist ausgebeult wie der Ellbogen einer alten Jacke, enorm bequem und von Erinnerungen geweitet. Der Rotor eines Ahornsamens dreht sich durch die Luft, als wäre das eine Sekunde, die so vergeht.

Wenn es geht, bleibe ich bis auf Weiteres hier, obwohl manche Regionen für Herumtreiber zwischen Stadt und Land bereits geschlossen werden wie zu Pestzeiten. Und beobachte, wie im Garten der Schatten des Roten Milan durchs Gras schleift.

3 / IV / 2020
Zu dem langen Sonntag der Epidemie, der die Straßen in Schläfrigkeit und die Plätze in eine sonderbare Leere versinken lässt, gehören, ähnlich dem Wetterbericht, die täglichen Infektions- und Todeszahlen. Sie rücken die Bedingung der Endlichkeit, unter denen menschliches Leben stattfindet, wieder in den Mittelpunkt. Die nahegehende Todesbegegnung jedoch ist eingelagert in die Todesumgehung. Denn sie wird wissenschaftlich modelliert, in statistischen Kurven, Risikoverteilungen, prognostischen Berechnungen und einer Unzahl von Daten. Todesumgehungen finden sich in beinahe allen Kulturen, am offensichtlichsten in jenen, die an ein ewiges Leben im Jenseits glauben. Eine andere Vorgehensweise ist die Abstufung von relevanten und weniger relevanten Toden. Demnach ist bei der Tötung von ‚lebensunwertem Leben‘ oder von rassisch minderwertigem Leben der Tod von vornherein zu vernachlässigen. Er ist so bedeutungslos wie das vernichtete Leben. Ganz ähnlich verhält es sich bei der Auslöschung von Tieren, sowohl als Einzelwesen wie als Gattung. Die Nichtbegegnung mit dem Tod verhält sich in diesen Fällen strukturgleich und lässt sich auf die Deklassierung bestimmter Tode zurückführen. Wäre der Tod wirklich der große Gleichmacher, hätte das revolutionäre Auswirkungen auf das Leben.

10 / IV / 2020
Vollständige Klarheit von Nacht- und Taghimmel. Im Ostwind ist die Kälte des Winters aufbewahrt. Nichts schreibend; vielleicht zerebrale Inkubation. Arbeiten im Garten, einen Zwetschgenbaum gepflanzt. Bilanziert sind es jetzt zwölf Obstbäume, jene sieben damals im Haus am Fluss (zwei Birnen, eine Mirabelle, eine Kirsche, eine Pflaume, zwei Äpfel), fünf nun hier im uckermärkischen Landgarten (zwei Äpfel, ein Pfirsich, eine Birne und heute die Zwetschge). Wie viele Bücher sind es mittlerweile? Keinesfalls mitzählen. Es ergibt keine Summe.

Was taucht in diesen Tagen noch auf: der Andere als Bedrohung, als Ansteckungsgefahr. Der Infektiöse, dieser anthropologische Typus der Stunde, trägt undurchsichtige Informationen in sich, durch die er zum gefährlichen Überträger wird. Auf diese Weise zeigt er die ursprüngliche menschliche Doppelnatur: Er ist real und Metapher, wo ‚metapherein‘ übertragen bedeutet. Begegnete man in der ökonomisierten Gesellschaft im Anderen auf Schritt und Tritt dem Konkurrenten, trifft man in der epidemischen Gesellschaft auf den Überträger des Todes, vor dem man sich schützen muss. Ich nehme das sehr ernst, denn es wird tiefe Spuren hinterlassen, deren Folgen jene des Terrorismus der beiden zurückliegenden Jahrzehnte übertreffen. Der Mensch ist dem Menschen ein Virus.

15 / IV / 2020
Zur Zeitmessung: Vor drei Tagen erschienen die Schwalben. Die Nächte verbrennen mit ihrem Frost die Staubgefäße in den Ringlottenblüten zu schwarzen unfruchtbaren Punkten. Schnell wechselndes Licht am Tag, Minuten, in denen der Garten ungetrübt leuchtet, die Pfirsichblüten in jenem zarten, ja zarten Rosa, das meine Erinnerung mit den Solebecken von Port Elizabeth mischt, kurz bevor ich durchs Eisentor von Soweto fahre und zum ersten Mal in meinem Leben die Hierarchien des Elends erkenne.

Die Wirtschaftsleistung nimmt weltweit ab, die Börsenkurse sind stark gesunken, desgleichen die in Indizes gemessene Stimmung von Unternehmen, die Mobilitätsgesellschaft erscheint nahezu unbewegt, und die Zahl der Flugzeuge am Himmel tendiert gegen Null. Eines jedoch verzeichnet starken Zuwachs: die Unsicherheit. Und man spürt, Unsicherheit ist etwas wesentlich anderes als das gut etablierte Risiko, das die Steuerung gesteigerter Möglichkeiten möglichst erfolgversprechend mit Wagniskapital verknüpft. Die Unsicherheit, jene alte insecuritas humana, führt hingegen in die Nähe eines Scheiterns, das von der absoluten Nullnummer, philosophisch: vom Nichts, nicht loskommt.


Volker Demuth lebt als freier Autor und Medienwissenschaftler in Berlin. Er produzierte Radio-Features und Hörspiele und wirkte bis 2004 als Professor für Medientheorie. Neben Romanen und kulturtheoretischen Essays erschien zuletzt sein autobiografisches Buch „Niederungen und Erhebungen“. Für seine Werke wurde er u. a. mit der Ehrengabe der Deutschen Schillerstiftung ausgezeichnet. Er ist Mitglied des Fachbeirats Transdisziplinäre Wissenschaften der Guardini Stiftung.

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