Guardini akut | Tiberius auf Capri

Guardini akut | KW 20/2020

Tiberius auf Capri

Von Artur Becker

Selbst als seine Legionäre den jüdischen Wanderprediger Jeschua ans Kreuz nagelten
Den Imperator der Schrebergärten und Züchter der Friedenstauben,
Den erleuchteten Rettungsschwimmer vom See Genezareth,
Den Ausbilder der Fischer und der Tischler,
Den ersten und den letzten Gast in jedem Hotel,
Das am nächsten Tag geschlossen und im kalten Sand beerdigt wird,
Selbst dann stieß diese Kreuzigung des Weltalls
In einer Nussschale aus Fleisch und Blut
Bei dem Kaiser Tiberius Iulius Caesar Augustus
Auf taube Ohren, blinde Augen und dreckige Hände:
Wie trostlos doch muss ihm die Provinz in Judäa oder Samaria erschienen sein,
Wie deprimierend ihre kargen Landschaften und ihre heiligen Felsen,
Wie barbarisch ihre monotheistischen Bewohner,
Während auf Rhodos oder Capri die frische Meeresluft
Der Wissenschaften und der Götter und die Sonnenkränze
Der Kunst und der pornografischen Fresken Rettung versprachen:
Ein Segen für Tiberius und seine Sehnsucht nach esoterischer Einsamkeit
Und nach knackigen Ärschen der Gymnasiasten.

Nein, er liebte und hasste bereits wie wir Heutigen,
Floh vor den Terroristen und dem Börsencrash in New York nach Capri
Und trauerte um Germanicus seinen fleißigsten Feldherrn, seinen ungeborenen Sohn,
Seine rechte Hand mit dem tödlichsten Schwert der Legionen.

Und der deutsche Weltschmerz hatte den Kaiser gepackt,
Das absurde Theater der französischen Existenzialisten,
Der amerikanische Sexus, der ständig Hunger hat.
Und während er sich auf Capri ausruhte weit weg von den Paparazzi
Und den lästigen Dokumenten der Minister, Präfekten und Tribunen,
Wurde sein Reich immer gewaltiger und unberechenbarer:
Astronomen suchen nach wie vor für ihn und seinen kaiserlichen Hurenhof
Nach neuen bewohnbaren Planeten, und das geschieht jeden Tag
In seinem Namen, der unsterblich ist.

Und war er grausam, der militärische Kometenlenker, fragst du,
Oder bloß ein müder geiler Steinbock?
Nichts ist sicher, mein unbekannter Passant aus der Vergangenheit und Zukunft:
Er wird eines Tages zu dir zurückkehren und sich noch einmal
In all den leuchtenden Dreck der Erde verlieben,
Um irgendwann wieder in Angst und Eile
In seine Villa Jovis oder Malaparte auf Capri zu fliehen –
Und dann wird er erneut nicht mitbekommen,
Dass an den Rändern seines Römischen Reiches
In einem Viehstall mit verlaustem Heu und Fell
Auch über sein Schicksal gerichtet wird.

Aus: Bartel und Gustabalda, Gedichte, Parasitenpresse, Köln 2019.
© Parasitenpresse Köln und Artur Becker


 

Der Schriftsteller Artur Becker stammt aus Bartoszyce (Masuren) und lebt seit 1985 in Deutschland. Er veröffentlichte zahlreiche Romane, Erzählungen, Gedichte und Essays. Zuletzt erschienen sein Roman „Drang nach Osten“ und sein Gedichtband „Bartel und Gustabalda“, beide 2019. Für sein Werk wurde er vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Adalbert-von-Chamisso-Preis und dem Dialog-Preis.

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