Guardini akut | KW 30/2020
Shutdown der Normalität
Außergewöhnliche, erst recht dramatische Umstände zwingen zu verändertem Handeln und wecken zugleich den Hunger nach Normalität und Perfektion. Aber es gibt, wie Paul Ludwig Landsberg sagte, keine geschichtliche Aktivität, kein Engagement „ohne eine bestimmte Entscheidung für eine unvollkommene Sache“.
Von Joachim Klein
Anfang Januar 1939 schrieb der deutsch-französische und christlich-jüdische Denker Paul Ludwig (Paul-Louis) Landsberg – rückblickend auf ein gemeinsames Projekt – an seinen Freund José Bergamín: „Vor vier Jahren waren wir bei allen Problemen, bei allen Schwierigkeiten, die uns begegneten, noch Kinder im Vergleich zu dem, was wir heute sind.“ Dazwischen, muss man erläuternd hinzufügen, lagen beider Erfahrungen in und mit dem Spanischen Bürgerkrieg, aber auch die Zeitgenossenschaft mit der Epoche von Hitlers Aufstieg und Stalins Schauprozessen – kurz: mit einer Etappe des Weltbürgerkriegs auf dem Weg zum Weltkrieg. Ich musste in den letzten Wochen hin und wieder an diese Bemerkung von Landsberg denken. Auch wenn der historische Vergleich ziemlich frivol erscheint angesichts der Schrecknisse und Barbareien, deren Zeugen die beiden Briefpartner werden sollten, nicht zuletzt auch angesichts des fürchterlichen Todes Landsbergs im KZ Oranienburg; auch wenn allen Vergleichen dieser Art etwas geradezu Obszönes eignet (wie war das gleich nochmal mit Martin Heideggers berüchtigtem Vergleich „der Fabrikation von Leichen in Gaskammern“ und dem „motorisierten Ackerbau“?); auch wenn also ein jeder Vergleich von solcher Art nichts anderes sein kann als eine Relativierung und Vulgarisierung des Ungeheuerlichsten, Unfassbaren, kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass das, was wir gerade mit der Coronapandemie wahrgenommen haben, erst der Vorschein eines größeren Unheils ist, dessen Ausmaß wir noch gar nicht kennen (können). Und das heißt ungeachtet des aktuellen Ausgangs: Wir werden keine Normalität wiedergewonnen haben, „wenn das alles mal vorbei sein wird“.
Ich bin „natürlich“ nicht der Ansicht, dass Corona eine „Rache“ oder „Strafe“ der Natur sei, ich vertrete erst recht nicht die These eines wie auch immer gestalteten Menschenkomplotts. Aber ich glaube, dass wir gerade etwas Irreversibles erleben, eine Entwicklung, die entgegen unseren geheimen Erwartungen unmöglich zurück zum status quo ante führen kann: Zu groß sind die Erschütterungen, die Corona ausgelöst hat und nunmehr auf die beiden anderen quasi schicksalhaften Faktoren überträgt: das Klima und die Wirtschaft. Wir bewegen uns – und das macht uns das Virus gerade deutlich – auf eine höllische Triade hin: Epidemien, die um den Erdball rasen, CO2-Eruptionen, die wir nicht in den Griff bekommen, und der Reichtum, der zu implodieren beginnt. Plötzlich wird uns deutlich, dass wir Kinder einer großen Illusion waren, Kinder auf dem Weg zu einem imaginären Morgen. Um zum Beleg nur einige wenige, gleichsam prosaische Phänomene anzuführen: Wie konnten wir jahrzehntelang so abergläubisch ein Wirtschaftswachstum unterstellen, das uns mit (sagen wir mal) dreieinhalb Prozent als gesund und/oder wünschenswert erschien, aber – eine einfache Zins- und Zinseszins-Rechnung bringt es an den Tag – in 300 Jahren ein 30.000fach höheres Wirtschaftsvolumen auf Erden im Vergleich zu heute bescheren würde? Wie konnten wir so selbstverständlich alle vorhandenen und künftigen Probleme (angefangen von der Vermüllung des Planeten über die unappetitlichen Folgen unserer Fresssucht bis hin zu den apokalyptischen Auswirkungen des Wassermangels) ausblenden und so mantrahaft die schöne neue Welt mit ihren luxurierenden Segnungen beschwören? Wie konnten wir so lange dem Fetisch Mobilität huldigen, und das auch noch, als wir bereits im globalen Stau steckengeblieben waren? Und wie wollen wir jetzt, um den aus unserem Fehlverhalten und aus unseren Verdrängungen resultierenden Debakeln der Zukunft zu entgehen, einen sozusagen der Coronakrise abgeschauten umfassenden Shutdown hinkriegen, ohne ein soziales Armageddon zu entfesseln?
Die Einsicht, so wir dazu noch in der Lage sind, macht uns ratlos, aber auch – und das ist die einzig gute Nachricht – erwachsen. Insofern ist Corona ein Memento und ein Momentum. Das bedeutet in der Konsequenz: Wir treten aus der Betäubungsmaschinerie heraus, brechen mit unserer Infantilität, gestehen uns endlich unsere Endlichkeit ein und verwenden uns, wenn wir gegen Kopflosigkeit und Panik wetten und die Reflexion auf unser Dasein wagen, mit Leidenschaft „für eine unvollkommene Sache“ (wie Landsberg 1937 in einer Art Manifest mit dem Titel Réflexions sur l‘engagement personnel schrieb). Freilich beinhaltet dieses Engagement auch, so Landsberg weiter, „ein Risiko und ein Opfer, das bis ins Tragische reicht“. Die Akzeptanz des möglichen Scheiterns ist die Risikoprämie, die wir an uns selbst zu entrichten haben. Die nimmt uns kein Gott ab, insofern ist jene wohlfeile Formel (die Heidegger so binsenhaft gar nicht gemeint haben kann), nämlich die Wendung „Nur ein Gott kann uns retten!“, weder beschwörungstauglich noch Trost spendend; und sie kann erst recht nicht, bei aller Pietät, die uns aus der Überwindung unserer Naivität zuwächst, den Schlussstein unserer Weisheit bilden. Denn um einen Gedanken Thomas von Aquins zu verfremden: Gott kann nicht wollen, dass wir einen Rettungsschirm von ihm verlangen für das, was wir tun, aber er nicht will, dass wir es tun wollen.
Joachim Klein, 1950 in Saarbrücken als „sarrois“ geboren, 1957 eingedeutscht, studierte nach 1968 in Frankfurt am Main die Kritische Theorie, war als Journalist tätig und führte über viele Jahre die Feder – allerdings nicht federführend – für Unternehmen der Bank-, der Kreativ- und der Realwirtschaft. Er lebt in Osthessen und fühlt sich seit 2007 mit der Guardini Stiftung verbunden.