Guardini akut | KW 22/2020
Schwermut als häuslicher Volkssport
Die Büchnerpreisträgerin Sibylle Lewitscharoff verabredete sich mit ihrem Kollegen Heiko Hartmann zu einem poetischen Disput über Gericht und Erlösung. Im Herbst erscheint das Buch im Herder Verlag.
Ein Interview von Andreas Öhler
Frau Lewitscharoff, als Schriftstellerin müssten Sie es wissen: Sind das schlechte Zeiten für Melancholiker?
Ich merke schon, Sie spielen auf Romano Guardinis „Vom Sinn der Schwermut“ an. Melancholie gedeiht im Winkel, wenn um sie alles braust und man sich vom Weltgetriebe absondern möchte. Wenn sich nun alle zurückziehen müssen, verliert sie ihr Alleinstellungsmerkmal. Der Melancholiker ist ja ein hochgradiger Eigenmuffel. Wo kommen wir denn da hin, wenn Schwermut nun zum häuslichen Volkssport wird?
Werden auch Sie einen Corona-Roman verfassen?
Gott bewahre! Stille oder Ausnahmesituationen habe ich ohnehin immer schon literarisch verarbeitet, aber nicht in Bezug auf eine solche Krise. Ich meide wirklich alle aktuellen Reflexe in meiner Literatur. Die Presse hat das alles schon durchgehechelt, da finde ich nichts mehr Verlockendes. Es ist aber etwas anderes, dass solche Dinge eventuelle heimliche Auswirkungen auf Texte haben können, allerdings in anderer Hinsicht.
Im Herbst erscheint ein neues Buch von Ihnen mit dem Titel: „Warten auf“. Es geht um Gericht und Erlösung, ein poetischer Streit. Sie schrieben es zusammen mit einem Autor. Was war ihre Intension?
Ich hatte Lust auf gepfefferte Dialoge. Mein Mitstreiter Heiko Hartmann ist ein bisschen jünger als ich, arbeitete als Jurist, bis er sich ganz der Schriftstellerei widmete. Wir haben uns zusammengetan, nachdem der Herder Verlag an mich herangetreten war. Wir dachten uns aus, einen großen Disput im Jenseits zu veranstalten. Als Hintergrund der Handlung legten wir fest, dass wir zufällig nebeneinander im Flugzeug saßen und zusammen abgestürzt sind.
Er ist ein Agnostiker, Sie eine gesprächige Christin mit Heilserwartung…
Meine Stimme gibt zunächst mehr preis, das stimmt. Zum Beispiel, mit wem sie verheiratet war, dass sie Kinder hatte usw. Er will dagegen vom Leben nichts mehr wissen; alles was Zusammenfassungen des Lebens im Hinblick auf ein drohendes Gericht sein könnten, weist er von sich. Da ist er konsequent.
Wie haben Sie ihren gemeinsamen Schreibprozess gestaltet?
Wir haben im November letzten Jahres angefangen, im Mai sind wir nun fertig geworden. Einmal in der Woche haben wir uns getroffen und darüber geredet, wo wir gerade stehen. Wir haben uns nicht hineingeredet, es regierte der Zufall, beide mussten auf den jeweils anderen reagieren. Das fand ich besonders interessant, dass es nicht große Absprachen gab und wir uns öfter auch mal irritiert fragen konnten: „Was antwortet man nun auf die Passage des Anderen?“
Haben sie die Anschlussstellen dann vermörtelt?
Ja, wo es nötig war. Das waren aber die einzigen Eingriffe. Wir haben uns nur wenig korrigiert, waren nie einer Meinung, setzten gerade diese Spannung produktiv in diesem Text um.
Was unterscheidet Sie beide im wirklichen Leben?
Um nur einen der vielen Unterschiede zu benennen: Hartmann hat sich mit fernöstlicher Tradition beschäftigt, worin ich mich ja gar nicht auskenne. Er kommt aus einer katholischen Familie und hat es gehasst, war auch Ministrant. Ich bin gutmütig protestantisch, habe die Religion seitens meiner friedfertigen Großmutter erfahren.
Was Sie beide verbindet, ist Franz Kafka…
Ja. Bei Kafka gibt es das Gesetz, das absurd geworden ist; der Mensch kann nur noch ein groteskes Verhältnis zu ihm entwickeln. Etwas ist immer so verdammenswert, dass man vor diesem Gesetz nicht bestehen kann. Die Imagination schweift dann ins Große, ins Weite und Entsetzliche, aber Aufschluss bekommt man nicht.
Sie sind in ihrem neuesten Werk konditioniert auf ein Leben nach dem Tod. Gilt das auch für Ihr eigenes Leben?
Sagen wir es mal so: Ich habe einen Erwartungshorizont, der ist auch bebildert und mit theologischen Vorstellungen bestückt. Deshalb kann ich im Gegensatz zu meinem Gegenspieler mit vorbeihuschenden Seelen kommunizieren und mich ihnen später anschließen. Zumindest schon mal in meiner literarischen Vorstellung.
Grafikdesign Anja Matzker
Die in Stuttgart geborene Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff studierte Religionswissenschaften in Berlin. Sie veröffentlichte etliche Werke, zuletzt „Das Pfingstwunder“ (2016), „Pong III“ (2017), „Abraham trifft Ibrahim“ (mit Najem Wali 2018) und „Von oben“ (2019). 2013 erhielt sie den Büchnerpreis – nur einer von mehreren Literaturpreisen, mit denen sie ausgezeichnet wurde. Im September 2020 erscheint „Warten auf“ im Herder Verlag, ein Jenseitsgespräch mit Heiko Michael Hartmann.