Guardini akut | KW 17/2021
Reconnecting with your culture
Die kulturelle Pandemie einer jungen Generation
Während der Coronapandemie leiden wir am meisten unter der erzwungenen Distanz zu anderen Menschen. Das japanische Konzept des ‚iki‘ dagegen zeigt, dass Distanz nicht immer negativ besetzt sein muss.
Von Olimpia Niglio
In vielen Ländern der Welt ist es durch die Coronakrise nötig geworden, Abstand und Distanznahme gesetzlich oder anderweitig zu regulieren. In Japan dagegen gehört Distanz zum guten Ton und ist auch jenseits der Pandemie eine gesellschaftliche Norm. Japaner*innen sind sehr sensibel, wenn es um die Frage des ‚richtigen Abstandes‘ geht. Aber was bedeutet das überhaupt?
Die globale Pandemie ermöglichte ein völlig neues Nachdenken über das Konzept der Distanz. In den ersten Monaten des Lockdowns, ab März 2020, beschäftigte ich mich mit dem japanischen Philiosophen Shuzo Kuki. Kuki ist der Autor eines sehr interessanten Werkes mit dem Titel „Das Konzept des ‚iki'“. Im Japanischen bezeichnet das Wort ‚iki‘ die Aufrechterhaltung einer liebevollen Beziehung ohne Abhängigkeit und übermäßige Anhänglichkeit. Es ist ein ethisch-moralischer Begriff, aber gleichzeitig auch ein ästhetischer.
Den Begriff ‚iki‘ in eine westliche Sprache zu übersetzen, ist sehr schwierig. Aber Shuzo Kuki machte mir bewusst, dass das Konzept, obwohl es mehrdeutig und auch umstritten ist, eine ausgezeichnete Grundlage für ein Bildungsmodell liefert, das darauf abzielt, junge Menschen aus allen Kulturen der Welt einander näher zu bringen. Distanz kann dabei als Vehikel gegenseitigen Respekts trotz großer Vielfalt und Verschiedenheit dienen.
‚iki‘ ist ein Beziehungskonzept, das auch Raum und Zeit miteinschließt – nicht so wie Heidegger oder Kant oder andere europäische Philosophen Raum und Zeit verstehen, sondern bezogen auf den Distanzbegriff im Kontext von Natur und Mensch. Erst mit der richtigen Distanz in Raum und Zeit kann der Mensch auf empathische Weise mit anderen in Verbindung treten. Dieser Prozess einer kontinuierlichen Suche nach einer sich immer wieder erneuernden Beziehung zwischen Innen und Außen, zwischen Mensch und Natur inspirierte ein Projekt, dessen Ziel es ist, jungen Menschen lokale Kulturen und kulturelle Vielfalt näher zu bringen. So entstand aus dem Konzept des ‚iki‘, also der empathischen Distanz, das Projekt „Reconnecting with your culture“.
Das internationale und ethisch motivierte Kulturprojekt „Reconnecitng with your culture“ soll jungen Menschen überall auf der Welt, die durch die Pandemie zur Einhaltung von Distanz gezwungen sind, dabei helfen, erneut konstruktive und empathische Beziehungen zu anderen einzugehen – insbesondere unter Berücksichtigung ihrer kulturellen Vielfalt und ihres lokalen Erbes. Das Projekt wird in Zusammenarbeit mit der UNESCO University and Heritage realisiert. Es gibt bisher kaum Bildungsprojekte, die den kulturellen und lokalen Hintergrund der Jugendlichen berücksichtigen, an die sie sich richten. Deshalb liegt hier der Fokus gerade darauf, Realitäten der Vielfalt in einer globalisierten Welt zu verstehen, um neue Methodologien des Wissens unter Anerkennung der Relevanz kultureller Herkunft zu entwickeln. Der Schwerpunkt liegt auf der Frage nach der ‚richtigen Distanz‘, die dabei helfen kann, Nähe unter Anerkennung der Andersheit des anderen zu erzeugen und damit einen universellen und gerade nicht ‚globalisierten‘ Dialog zu ermöglichen.
Während ich Realitäten der verschiedenen Länder der Welt, vom ‚Fernen Osten‘ bis zum ‚Fernen Westen‘, mit dem ‚richtigen Abstand‘ kennenlernte, formte sich in mir die Idee eines neuen Humanismus, in dessen Zentrum Kultur als Ursprung von Fortschritt und Innovation steht.
Um einen solchen Humanismus Wirklichkeit werden zu lassen, ist es nötig, die junge Generation in den Blick zu nehmen und in ihrer Entwicklung den Samen für eine bessere Zukunft zu säen. Nur mit Bildungsprogrammen können wir eine bessere Welt erschaffen, in der Kinder nicht als Behälter fungieren, in die Wissen und Begriffe gefüllt werden, sondern sein können, wer sie sind: Inkarnationen von Kreativität und Innovation.
Die Pandemie ist ein historischer Moment, der uns ermöglicht, über notwendige Veränderungen in unserer Welt neu und verantwortungsbewusst nachzudenken und die unterschiedlichsten Kulturen miteinander in Dialog zu bringen, um neue Perspektiven zu entwickeln. Echte Veränderung geht nur von jungen Menschen und Kindern aus. Diese werden sich der schweren Aufgabe stellen müssen, die Städte und Nationen der Welt von morgen aufzubauen und zu führen.
Nur acht Monate nach seinem Beginn im Juli 2020 hatte das Projekt „Reconnecting with your culture“ die ganze empathische Kraft des ‚iki‘ entfaltet. Über 40 Länder auf fünf Kontinenten sind einander inzwischen in über 50 internationalen Seminaren, Vorträgen und Treffen begegnet – eine echte kulturelle Pandemie!
So hat das Projekt neue Brücken gebaut und vielen jungen Menschen aus verschiedenen Kulturen ermöglicht, das Konzept einer ‚korrekten kulturellen Distanz‘ kennenzulernen und sich auf diese Weise selbst besser zu verstehen sowie universelle Werte zu verinnerlichen. Das Projekt diente dem italienischen Außenministerium und diversen internationalen Institutionen als Modellversuch.
Mehr Informationen finden Sie unter http://esempidiarchitettura.it/sito/edakids-reconnecting-with-your-culture/.
Übersetzt von Patricia Löwe
Olimpia Niglio ist Professorin für vergleichende Architekturgeschichte an der Hokkaido University, Graduate School auf Humanities and Human Sciences in Japan. Seit April 2021 lehrt sie außerdem an der Hoesi University in Tokio. Darüber hinaus ist sie als Rerearch Fellow an der Kyoto University Graduate School of Human and Environmental Studies und als Professorin an der Universidad de Bogotá Jorge Tadeo Lozano in Kolumbien tätig. Sie leitet das internationale Forschungszentrum EdA Esempi di Architettura und ist Vizepräsidentin von ICOMOS International Scientific Committee PRERICO sowie von ACLA, Asian Cultural Landscape Association (SNU, Seoul).