Guardini akut | KW 16/2021
Ob es ihnen auch so geht?
Schulschließungen und -öffnungen sind aktuell ein heiß diskutiertes politisches Thema. Aber wie geht es den Schüler*innen während der Coronakrise?
Von Eloisa Perone
Mit einem zurückgehaltenen Lächeln sieht er mich etwas von oben herab an: „Mama, die lassen mich nicht in die Schule“. Es war Mitte März und ich hielt mich noch an der Vorstellung fest, dass mein Siebtklässler zumindest ein paar Tage in die Schule gehen würde. Ich freute mich: Der konkrete Kontakt zu Lehrer*innen und Mitschüler*innen wird vielleicht die unverbindliche Bildschirmblase in der sich mein Sohn Samuele seit Anfang Dezember bewegt hat, kurz durchbrechen. Aber er hatte natürlich Recht. Die Mittelstufe durfte wirklich noch nicht in die Schule.
Nun haben wir April, und ich schaue wieder alle 10 Minuten aufs Handy, arbeite mich durch meine Nachrichten-Apps und versuche, meinen Ärger zu zügeln. Es ist Donnerstag, in vier Tagen sollte die Schule wieder beginnen und noch keine politische Entscheidung dazu ist getroffen worden. Aber letzte Woche eilte es ja noch nicht. Schließlich war das Ende der Osterferien ganze zehn Tage entfernt. Als ob in einer Woche ein Inzidenz-Wunder geschehen könnte, oder alle Berliner über Nacht von der Zahnfee geimpft würden.
Ich merke, während ich schreibe, wie wütend ich eigentlich bin. Ob es meinen Söhnen auch so geht? Sie schleichen etwas gelangweilt aber scheinbar gelassen durch die Wohnung. Als ich gestern dem Großen einen „guten Morgen“ gewünscht habe, hat er mit „Naja“ geantwortet. „Jetzt kommt noch so ein Tag, der nie zu Ende geht“. Er lächelt nicht mehr ganz so besserwisserisch, wenn er mir erklärt, dass ich nicht auf den Nachrichtendienst starren soll, weil er eh nicht in die Schule zurück darf.
Als im Februar bekannt wurde, dass die Schulöffnung für die Mittelstufe doch nicht stattfindet, kam gleichzeitig vom Handballverein ein Aufruf zum Training im Freien. Ein Lichtblick, denn seit Monaten ist das sonst dreiwöchige Training ausgefallen. Als ich meinen Sohn dafür anmelde, kommt die Antwort: „Er ist schon 13, der darf nicht. Sorry“. Ich hatte Tränen in den Augen. Er hat gar nichts gesagt. Nur, dass das Training über Video keinen Spaß macht.
Highlight für den frisch gebackenen Teenager ist somit momentan nur am Sonntagabend mit der Mutter Tatort schauen. Dass das pädagogisch grenzwertig ist, ist mir zwar bewusst, aber zumindest haben wir ein Ritual, in dem wir uns gedanklich mit vielen anderen Sofasitzer*nnen verbunden fühlen. Und wenn mein Sohn alt genug ist, sich in einem völlig unübersichtlichen Lehrportal durch immer anders und zu immer neuen Zeiten abzugebende Aufgaben in den unterschiedlichsten Formaten zu arbeiten, kann er auch verkorkste Krimis schauen, finde ich.
Wenn er Schulaufgaben nicht rechtzeitig abgibt oder Videokonferenzen vergisst, werde ich sauer. Manchmal denke ich dann an meine Studienzeit zurück. Wie schwierig es war, auf sich gestellt zu sein, die Arbeit selbständig zu organisieren und sich alleine völlig neue Lerninhalte zu erschließen, dabei keine Zeit mit Plaudern, Spielen, Lesen, oder einfach Faulenzen zu vertrödeln. Da war ich 20 Jahre alt. Es gab keine Videospiele, kein YouTube und keine Kontaktbeschränkungen. Also weniger Ablenkung und viel mehr Ausgleich.
Ein bisschen stolz bin ich also doch darauf, dass er noch nicht durchgedreht ist, morgens aus dem Bett kommt, nicht den ganzen Tag sinnlos am Computer verspielt, seine Aufgaben macht, seinen (schlechten) Notendurchschnitt mit viel Arbeit – und Unterstützung der ganzen Familie, Großeltern miteinbegriffen – verbessert und fast nie klagt. Von Freunden und Bekannten weiß ich, dass der Alltag für viele Jugendliche zu einer kaum zu bewältigenden Herausforderung geworden ist und einige sich gar nicht mehr aus dem Schutz ihres Schlafanzugs herauspellen.
Das Schlafanzugthema bringt mich zu meinem Sohn Nummer Zwei. Sein Lächeln ist weit ironischer und seine Enttäuschung lauter. An einem Montagabend im Februar, als ich die Kinder händeklatschend und mit den aufmunternden Worten: „Ab ins Bett, es ist noch Montag, wir haben eine volle Woche vor uns!“, in ihre Zimmer scheuche, verwandelt er sich plötzlich in ein speicheltriefendes, kreischendes Monster. Er wälzt sich am Boden und brüllt aus Leibeskräften. Er will nicht mehr dieses bescheuerte Homeschooling machen, er hasst die Hausaufgaben, er hasst den Tag, er hasst die Woche, er hasst das alles und es ist Montag! Montag! Verstehst du denn nicht? Er ist vollkommen außer sich und ich stehe sprach- und hilflos vor ihm. Er kommt sonst immer so gut allein zurecht. Er kann stundenlang lesen, fühlt sich allein am wohlsten, ist ein Eigenbrötler und hat sich am Anfang regelrecht über das verordnete Stubenhockertum gefreut.
Als er dann später drei Stunden am Tag in die Schule konnte, wurde sein Lächeln wieder breit und fröhlich; mit Eifer hat er sich in die Schulaufgaben gestürzt. Der Große saß derweil noch an seinem Schreibtisch vor immer spärlicher werdenden Videokonferenzen und einer wachsenden Menge Aufgaben. Der Allerkleinste hüpfte dabei aufmunternd mit seiner Brotbox um ihn herum. Er durfte wieder in die Kita.
Und ich? Nur halb von der Verantwortung und 24-Stunden Betreuung der unfreiwillig zu Hause Lernenden befreit, stand auch ich endlich wieder vor meiner ebenfalls halben Schulklasse. Zehn Kinder starrten mich über ihre Masken hinweg fragend an.
Über Monate hatte ich sie nur über einen Bildschirm gesehen. Jeden Morgen habe ich sie aufgefordert, mich anzulächeln, habe jeden einzeln beim Namen genannt und zurück gelacht. Erst dachte ich, es wäre albern, aber schnell wurde mir klar, dass sie darauf warteten, es regelrecht einforderten. Die Kinder wollten benannt und angesehen werden. Ich musste gut aufpassen, im Bildschirmwirrwarr niemanden zu übergehen – gerade die, die ihre Kamera demonstrativ ausgeschaltet hatten, abgetaucht waren, aber insgeheim darauf hofften, erkannt zu werden. Es wurde ein tägliches Rückversichern der Verbindlichkeit unserer Beziehung, Unterricht und Inhalte kamen danach.
Als wir am 9. März das Klassenzimmer betreten, zeigt der Kalender den 4. Dezember an. Es ist, als seien wir zusammen eingefroren gewesen. Das grellgrüne Monatsplakat „März“, dass ich an der Tafel befestige, hat etwas aggressiv Unwirkliches. Frühlingsanfang? Dann tauen aber doch alle auf. Sie wollen vorlesen, präsentieren und vortragen. So wie mein Zweiter, stürzen sich auch diese Fünftklässler an ihren Einzeltischen in die Arbeit. Ganz großartig finden sie, dass sie den Adventskalender, der immer noch am Fenster hängt, jetzt einfach plündern dürfen. Bei strahlendem Sonnenschein und blühender Forsythie fischen die Kinder Radiergummis in Rentier Form und Schokoladensterne aus bunten Socken. Und während ich mich noch frage, ob diese weiß angelaufene Schokolade vielleicht ungesund ist, kauen die ersten schon. Sie haben keine Angst und wissen es besser: „Frau Perone, sie schmeckt noch!“, grinst mich Zelal aus ihrer einsamen Bank in der ersten Reihe glücklich an. Sie hat sicher recht. Ich schnappe mir eine Weihnachtssocke und beiße selbst in ein ranziges Stück Schokolade.
Seit dem 9. März 2021 bieten die Berliner Grundschulen Präsenzunterricht in Teilungsgruppen an. Die Mittelstufe darf seit dem 19. April wieder in die Schule. Auf Grund der steigenden Inzidenzen ist es noch ungewiss, wie lange die Schulen tatsächlich im Präsenzbetrieb bleiben.
Dr. Eloisa Perone lebt seit 2016 mit ihrer Familie in Berlin. Sie arbeitet als Grundschullehrerin und Fachseminarleiterin in Neukölln. An der Universitäten Turin und Vercelli war sie zuvor als wissenschaftliche Mitarbeiterin in den Fächern Germanistik und Theaterwissenschaften tätig. In Italien hat sie als Schauspielerin, Regisseurin und Theaterpädagogin gearbeitet.