Guardini akut | Nicht den Verstand verlieren!

Guardini akut | KW 7 bis 8/2022

Nicht den Verstand verlieren!

Ein Gespräch mit dem neuen Guardini Professor Christoph Jäger über Philosophie im 21. Jahrhundert und die Kraft der Rationalität
Von Patricia Löwe

Das Interview wurde am 17. Febraur 2022 geführt und nimmt daher keinen Bezug auf die derzeitigen Ereignisse in der Ukraine. Den Nachtrag vom 10. März 2022 von Christoph Jäger lesen Sie hier.

Patricia Löwe: Warum ist es gerade heute wichtig, Philosophie zu betreiben?

Christoph Jäger: Ich glaube, dass Philosophie heute so wichtig ist wie eh und je. Aber Ihre Frage suggeriert, dass der Philosophie gerade heute eine wichtige Rolle zukommt. Ich denke, man kann das bejahen, wenn man die Herausforderungen der Zeit betrachtet. Wir haben uns in eine globale ökologische Krise hineingewirtschaftet; soziale Verwerfungen und wirtschaftlich-territoriale Auseinandersetzungen verschärfen sich. Ich sehe die Bedeutung meines Faches in diesem Zusammenhang in zwei grundsätzlichen Leistungen:
Zum einen lenkt Philosophie den Blick auf das Wesentliche. Auf der inhaltlichen Seite betreibt sie dabei Grundlagenforschung und versucht, interdisziplinär offen zu sein, insofern sie Ergebnisse der empirischen Wissenschaften berücksichtigt. Ein Beispiel: Niemand wird heutzutage eine philosophische Emotionstheorie aufstellen, ohne Erkenntnisse der Psychologie oder der Cognitive Science über menschliche und tierische Emotionen zu berücksichtigen. Eine Theorie der Verantwortung für zukünftige Generationen, die fragt, was eine solche Verantwortung bedeutet, ob es sie gibt, warum es sie gibt usw., ist auch von der Frage inspiriert, wie sie sich heute angesichts des Zustands unseres Planeten umsetzen lässt. Philosophie versucht typischerweise, abstrakte Grundlagenforschung an aktuell gesellschaftlich drängende Fragen und Probleme rückzubinden. Um bei der Ethik zu bleiben: Zu ihr gehören nicht nur die abstrakte Analyse von Begriffen wie „gut“, „geboten“, „verboten“, „erlaubt“ usw., sondern auch angewandte Bereichsethiken wie etwa die ökologische Ethik, die Sozialethik, die Friedensethik, die Medizinethik, die Tierethik, die Medienethik etc. Philosoph*innen sitzen daher heute – glücklicherweise – auch in interdisziplinär besetzten Ethikräten. Philosophie ist also auch ganz praktisch relevant. Selbst solche traditionell sehr abstrakten Disziplinen wie die Erkenntnistheorie liefern wichtige Einsichten zum Verständnis von Phänomenen wie etwa Fake News oder Verschwörungstheorien.
Der zweite entscheidende Punkt ist, dass Philosophie allgemein Rationalitätsforschung und auch Rationalitätstraining betreibt. Sie befasst sich in all ihren Disziplinen damit, was wir rationalerweise – oder, etwas allgemeiner gesprochen: vernünftigerweise – denken können und sollten. Anders als empirische Wissenschaften geht sie dieser Frage nicht nach, indem sie selbst empirische Ergebnisse liefert. Wir brauchen keine Labore, keine Instrumente, um Experimente zu machen. Wir Philosoph*innen denken darüber nach, was es heißt, sich vernünftig zur Welt zu verhalten – und trainieren das auch. Das ist unser Geschäft bis zum Lebensende, immer wieder nach der Rationalität der eigenen Theorien und Denkweisen zu fragen. Entsprechend besteht auch eines der wichtigsten Ziele in der Lehre darin, Vernunft und klares Denken bei unseren Studierenden zu fördern – in der Hoffnung, dass dieses auch über die Grenzen der Universität hinausstrahlt.

Tatsächlich erscheint es in Zeiten von Fake News und Verschwörungstheorien umso wichtiger, rationales Denken zu schulen!

Genau. Wenn Sie mich nach der Bedeutung von Philosophie unter Pandemiebedingungen fragen: Philosoph*innen entwickeln keine Vakzine, sie leiten keine Intensivstationen, aber sie setzen sich gerade in Krisensituationen dafür ein, nicht den Verstand zu verlieren. Insofern nehmen sie Einfluss auf politische und politisch relevante Entscheidungen – indem sie an die Gebote der Vernunft gemahnen und den Blick für Irrationalismen schärfen. Die Natur von Fake News und Verschwörungstheorien muss man verstehen, um sie zu erkennen. Ich erlebe in vielen privaten Gesprächen, dass es gar nicht so leicht ist, das zu vermitteln. Wann ist eine Haltung zu bestimmten Quellen einfach unvernünftig? Wo werden Gedankengebäude inkohärent oder irrational? Wenn man sich Mühe gibt, kann man sein Gegenüber zum Nachdenken bringen. Und solche Dialoge fördern aufs Ganze gesehen das Funktionieren einer demokratischen Gesellschaft.

Verändert die Pandemie die vorherrschenden philosophischen Denkströmungen?

Ich glaube nicht, dass solche gesellschaftlichen Krisensituationen die Natur von Philosophie verändern. Aber sie liefern interessante Daten. Zum Beispiel ist in den letzten Jahren deutlich geworden, dass Demokratie auch in demokratisch organisierten Ländern ein Wert ist, der nicht selbstverständlich ist und um dessen Verständnis und Anerkennung es ständig aktiv zu kämpfen gilt. Das hätte man vielleicht vor zwanzig bis dreißig Jahren in Deutschland so nicht vorausgesehen. Die Pandemie zeigt uns – und da sind wir wieder beim Thema –, wie weit verbreitet haarsträubend irrationale Denkweisen sind. Vielleicht waren entsprechende Anschauungen und Weltbilder auch vorher vorhanden und sind durch die Pandemie nur katalysiert und an die Oberfläche getrieben worden. Jedenfalls gibt es meines Erachtens neue Einblicke in das Ausmaß der Schwäche von Rationalitätsvermögen. Es gilt nun, sich damit auseinanderzusetzen.  

Wir leben nicht nur in einer Zeit, in der sich Verschwörungstheorien lauffeuerartig verbreiten, sondern die auch von einer zunehmenden Säkularisierung geprägt ist. Wie passt sich Religionsphilosophie in so eine Zeit ein?

Die Behauptung, dass Religion – und damit Religionsphilosophie – mehr oder weniger überholt und antiquiert sei, halte ich für falsch. Dabei ist Religionsphilosophie kein rein historisches, rekonstruierendes Unterfangen. Die Säkularisierungsthese ist nur bedingt zutreffend, denke ich. Es gibt eine, größtenteils selbst verschuldete, Krise der großen Kirchen, die zwar auch nicht erst seit gestern existiert, die aber neue Dimensionen erreicht hat. Diese Krise hat das gesellschaftlich verbreitete Bedürfnis nach Spiritualität jedoch nicht geschmälert, dem Menschen in unterschiedlichster Weise nachgehen, oft anders organisiert als noch vor einhundert Jahren. Früher oder später, glaube ich, fragen sich die meisten Menschen nach dem Sinn ihres Lebens – jenseits des unbeeinflussbar Endlichen.
Religionsphilosophie ist – davon ausgehend – ein Zweig der Philosophie, der im allgemeinsten Sinne das Wesen und die Gehalte religiösen Glaubens analysiert, auch das Wesen einer Hoffnung auf einen Sinn des Lebens, der allein im Sichtbaren nicht zu fassen ist. Und sie analysiert auch die Bedingungen, unter denen religiöse Haltungen und Weltanschauungen intellektuell und praktisch vernünftig sind. Im Kern geht es – das zeigen die Titel vieler religionsphilosophischer Klassiker – um das Verhältnis von Glauben und Vernunft.
Anders als etwa die vergleichende Religionswissenschaft, die Religionssoziologie oder die Religionspsychologie fragt Religionsphilosophie nach den Wahrheits- und Vernünftigkeitsbedingungen religiöser Haltungen. Ist ein religiöses Weltbild z.B. kohärent? Wie muss es aussehen, um in seinen theoretischen und moralischen Kernaussagen akzeptabel zu sein? Ein gutes Beispiel dafür ist das Theodizeeproblem: Gott ist allmächtig und allwissend. Wieso ist die Welt dann so schlecht? Oder aber das Freiheitsproblem: Menschliche Freiheit ist ein wichtiges Gut in der christlichen Weltanschauung. Wie passt das zusammen mit der Vorstellung von einem allmächtigen und alles vorhersehenden Gott, der die Welt nach seinem Willen einrichtet?
Und schließlich geht es in der Religionsphilosophie auch um die Grenzen des Religiösen: Was zum Beispiel unterscheidet Religion von Aberglauben?

Haben Religionsphilosoph*innen innerhalb des Kollegiums einen besonderen Stand?

Meiner Erfahrung nach sind sie durchaus respektiert. Es kommt natürlich auch ein wenig darauf an, in welcher Kultur man unterwegs ist und wie man methodisch arbeitet. In den USA beispielsweise gibt es viele fundamentalistische religiöse Strömungen, mit weit größerem Einfluss als in Deutschland, weshalb dort religiös unmusikalische Kolleg*innen aus anderen philosophischen Disziplinen der Religionsphilosophie bisweilen eine gewisse Skepsis entgegenbringen. Unabhängig davon haben die meisten Philosoph*innen ein Faible für metaphysische, erkenntnistheoretische und ethische Fragen und sind demnach sozusagen von Hause aus interessiert an der Beschäftigung mit letzten Dingen. Sofern Religionsphilosophie methodisch auf demselben Niveau betrieben wird wie andere Disziplinen der Philosophie, gibt es kein Problem. Wo jedoch ideologische Motive die Wahrheitssuche korrumpieren, wird man (wie freilich in anderen philosophischen Fächern auch) sein Ansehen als Religionsphilosoph*in schnell verlieren.

Gibt es einen Unterschied etwa zwischen christlichen und buddhistischen Religionsphilosoph*innen? Spielt das eigene religiöse Weltbild eine Rolle für Ihre Arbeit?

Natürlich sollte man mit den religiösen Weltanschauungen und Traditionen, mit denen man sich beschäftigt, vertraut sein. Insofern bietet es sich an, auf der Grundlage dessen, was man kennt und wo man sich heimisch fühlt, zu forschen. Und sicherlich beeinflusst das eigene Weltbild auch Denk- und Herangehensweisen, die Fragen, die man sich stellt etc. Gleichwohl würde ich behaupten, dass die methodischen Anforderungen im Kern immer dieselben sein sollten. Gute buddhistische Religionsphilosophie sollte sich methodisch nicht von islamischer oder christlicher unterscheiden. Es gilt immer, sauber zu analysieren, zu rekonstruieren und zu argumentieren – und den wesentlichen Kern einer Religion herauszuarbeiten und zu verstehen. Das Wort „verstehen“ ist ein wichtiger Schlüssel. Einem nicht-religiösen Menschen, der gewissermaßen eine Außenperspektive einnimmt, kann das Verstehen religiöser Weltanschauungen und Lebensformen schwerer fallen. 

Zum Sommersemester treten Sie die Nachfolge Ugo Perones als Guardini Professor an. Was reizt sie an diesem Posten?

Die Professur bietet die Gelegenheit, gerade solche Fragen der Religionsphilosophie in einer akademisch und kulturell optimalen Umgebung zu verfolgen: im neugegründeten Institut für Katholische Theologie der Humboldt-Universität, aber auch in Zusammenarbeit mit der Fakultät für (Evangelische) Theologie, dem Institut für Islamische Theologie und natürlich der Philosophischen Fakultät, an der ich kooptiert sein werde. Ich werde auf viele großartige Kolleg*innen treffen und freue mich auf anregende Dialoge. Es gibt zwei weitere erstklassige Philosophieinstitute in Berlin – an der Freien Universität und an der Technischen Universität. Das Abraham Geiger Kolleg in Potsdam ist nicht weit: ein Rabbiner*innenseminar, das die Theologie und Geschichte des Judentums pflegt. Und nicht zuletzt ist Berlin natürlich eine der kulturellen Metropolen Europas, die durch ihre Diversität und kulturelle Pluralität große Inspirationsquellen für philosophische und religionsphilosophische Arbeit bietet. Schließlich schätze ich auch die breitaufgestellte Kulturarbeit der Guardini Stiftung in der Tradition des Theologen, dessen geistiges Erbe sie pflegt. Ich bewundere Romano Guardinis Vielseitigkeit! Mit ihm teile ich die Auffassung, dass Philosophie und Theologie keine Elfenbeinturmdisziplinen sind, sondern sich so breit wie möglich in der Gesellschaft und der Kultur ihrer Zeit verankern sollten. Ich freue mich darauf, in dieser Tradition den Lehrstuhl besetzen zu dürfen!

Zum Schluss: Alle Welt stöhnt über Vorlesungen und Seminare, die per Zoom veranstaltet werden. Hat das Digitale auch Vorteile für die Lehre?

Es gibt Vorteile. Aber digitales Lehren und Lernen ist keinesfalls eine Alternative zur Präsenzlehre. Der persönliche Kontakt zwischen Studierenden und Dozierenden ist aus meiner Sicht von immenser Wichtigkeit. Identifikation und persönliche Auseinandersetzung sind unverzichtbar, um in einem Fach erfolgreich zu sein. Der Kontakt zu den Academic Peers, den Kommiliton*innen und Kolleg*innen, kann in diesem Zusammenhang nicht überschätzt werden. Oft bewahren mich zehnminütige Gespräche mit einer Kollegin oder einem Kollegen vor wochen- oder monatelangen Um- oder Abwegen, in die ich mich hineingedacht hätte. Und das, scheint mir, gilt auch für Studierende. In persönlichen Gesprächen, von Angesicht zu Angesicht, kann man in kurzer Zeit große Fortschritte im Denken machen. Deshalb ermutige ich meine Studierenden, sich möglichst viel mit den Kommiliton*innen auszutauschen. Philosophie ist ein sozial inspiriertes Unternehmen! Das kommt in digitalen Formaten entscheidend zu kurz.
Auf der anderen Seite können sich zu Zoomveranstaltungen Teilnehmende zuschalten, die andernfalls niemals hätten partizipieren können, weil sie sich in anderen Städten, Ländern oder sogar auf anderen Kontinenten befinden. Das kann eine große Bereicherung für alle Beteiligten sein. Sobald wir zur Präsenzlehre zurückkehren, wünsche ich mir, dass wir diese neuentdeckten digitalen Vernetzungen in hybriden Formaten weiter nutzen werden.

Grafikdesign Anja Matzker


Prof. Dr. Christoph Jäger ist sowohl in Deutschland als auch international als Religionsphilosoph tätig. Er ist derzeit Professor am Institut für Christliche Philosophie an der Universität Innsbruck und wird zum Sommersemester 2022 den Guardini Lehrstuhl besetzen. Seine Forschungsschwerpunkte sind Religionsphilosophie, soziale Erkenntnistheorie, allgemeine Erkenntnistheorie und die Theorie der Willensfreiheit.

Kategorien: