Guardini akut | KW 34/2020
Masken der Frauen
Von Brygida Helbig
Auch ohne Corona kann meine 86jährige Mutter nicht atmen, kriegt kaum Luft. Es liegt nicht an einer bestimmten Krankheit. Es ist eher ein Lebensgefühl. Ihr Lebensgefühl seit Jahrzehnten. Sie meint, am besten konnte sie noch atmen, als sie mit sechs Jahren in der Verbannung in Kasachstan ankam, auf einem offenen Lastwagen stehend, in der weiten Steppe. Paradox.
Ich bin 57 Jahre alt. In diesem Alter starb die Mutter meiner Mutter. Dieses Alter macht etwas mit mir. Ich ziehe Vergleiche. Und ich versuche zu leben, zu atmen. Trotz der Maskenpflicht, deren Berechtigung ich durchaus einsehe. Aber die Maske triggert mich. Mit der Maske setze ich eben auch ein Lebensgefühl auf. Das Gefühl, ich soll still sein, nichts sagen, geschweige denn Feuer spucken. Die Maske steht für etwas. Sie berührt eine Wut in mir, die ich noch nicht ausgedrückt habe. Die etwas mit meinem Leben zu tun hat, mit dem Leben der Frauen in meiner Familie. Denen ich nicht darin folgen möchte, eine Märtyrerin zu werden. Ja, es ist schwer, am Erbe meiner weiblichen Ahnen nicht zu zerbrechen. An widersprüchlichen Botschaften, an jahrhundertealten, kollektiv vererbten Verletzungen und an Frust.
Meine Großmutter starb im Jahr 1966. Zwanzig Jahre davor kam sie in die ehemals deutschen, westlichen Gebiete Polens aus der Verbannung in Kasachstan, wo sie mit ihrem Mann und ihren Kindern die Kriegsjahre verbrachte, aus Ostpolen von den Sowjets dorthin verschleppt. Sie hatte sechs Kinder, zwei von ihnen wurden in einer Erdhütte in Kasachstan geboren. Sie kümmerte sich dort nicht nur um sie, sondern auch um die alten Schwiegereltern, leistete Zwangsarbeit in einem Kolchos. Mein Großvater war an der Front. Nach dem Krieg tat sie alles, um den Kindern ein sogenanntes besseres Leben zu ermöglichen, eine Ausbildung zu geben. Sie kümmerte sich auch um die Enkel, um mich. „Sie war ein Engel, eine Seele von Mensch“, sagt meine Mutter. „Warum nimmt Gott solche Menschen so früh zu sich?“, fragt sie.
Meine Mutter wollte anders sein als ihre Mutter. Weniger aufopfernd, weniger still, weniger „gut“. Und dennoch wurde auch sie eine Märtyrerin. Sie wollte beruflichen Erfolg, traute sich aber nicht, ihrer wirklichen Herzensbegabung zu folgen, zu tanzen und zu singen. Wurde auch nicht dazu ermutigt. Sie hat bald geheiratet, so wurde es erwartet. Ist schnell Buchhalterin geworden, um ihr eigenes Geld zu verdienen. Hat ein Leben lang mit dem Abakus gehadert. Oft auch abends zu Hause. Dazu noch eingekauft, in Riesen-Schlangen angestanden im sozialistischen Polen, gewaschen, gebügelt, Elternabende besucht… Einer der ersten Sätze, die ich von ihr gelernt habe, war: „Ich habe keine Zeit“. Aus dem lachenden, fröhlichen Mädchen wurde irgendwann eine verbitterte Frau in den Jahren, die anderen Frauen ein freieres oder unbekümmertes Leben nicht unbedingt gönnt und ab und zu in Wut ausbricht. Die sich um ihren Mann kümmert und ihn gleichzeitig für ihre verlorenen Jahre unablässig verantwortlich macht. Die durch Krankheitssymptome ihre Geschichte erzählt. Die inoffizielle.
Ich helfe ihr gerade, ihre Erinnerungen aufzuschreiben.
Kann das ihr Leid etwas mindern?
Auch ich wollte freier, erfüllter sein als meine Mutter. Man verlangte von mir, dass ich ganz viel leiste, immer die Beste bin. Ein großer Erwartungsdruck. Die Emigration tut das Ihre dazu – noch mehr Anstrengung, noch mehr Einschüchterung. Ich habe es letztlich bis zur Habilitation in Deutschland gebracht, und doch habe ich nie wirklich daran geglaubt, dass ich Früchte meiner Anstrengungen ernten darf, dass ich sie verdiene. Ist es nicht so, dass ich mich immer noch zu sehr darum bemühe, es allen recht zu machen? Ein braves Mädchen zu sein und nicht zu viel für sich zu verlangen? Dass ich mich zu selten abgrenze? Niemanden verletzen will? Mich dadurch hier und da zu sehr verstricke? Könnte es sein, dass dadurch mein Schatten wächst? Mein innerer Dämon? Dass mich auch deshalb Menschen aufwühlen, die sich das selbstverständlich nehmen, was ich mir versage? Die forscher und direkter sind?
Corona-Maske hin oder her, wenigsten im übertragenen Sinne will ich keine Masken mehr tragen müssen. Niemandem etwas vormachen, nichts mehr spielen. Wahrhaftig sein. Nicht mehr „die Klappe halten“.
Die ersten Worte, die meine Tochter von mir als Kind gelernt hatte, waren: „Ich habe keine Kraft“. Wird sie stärker als ich? Wird sie freier? Sie verweigert sich unserem Erbe. Sucht länger ihren eigenen Weg als wir es uns getraut hatten. Gibt sich dafür mehr Zeit.
Was tun, um sie nicht zu verraten?
Was tun, um nicht krank werden zu müssen?
Kraft zu haben, Zeit zu haben, zu leben, zu tanzen, zu atmen?
Brygida Helbig, Autorin und Literaturwissenschaftlerin, wurde in Stettin in Polen geboren und lebt seit 1983 in Deutschland. Sie studierte Slawistik und Germanistik an der Ruhr-Universität Bochum und habilitierte sich 2004 an der Berliner Humboldt-Universität. In deutscher Übersetzung erschien zuletzt ihr Roman „Kleine Himmel“. Die polnische Originalfassung des Romans („Niebko“) war 2014 auf der Shortlist des Literaturpreis „Nike“ und erhielt 2016 die Goldene Eule. Brygida Helbig lebt in Berlin, ist Feuilletonistin von „Cosmo“-Radio und Professorin der Adam-Mickiewicz-Universität in Posen.