Guardini akut | KW 15/2020
Lost in Nature
Zuletzt waren in der Guardini Galerie Werke der Künstlerin Uschi Niehaus Indenbirken zu bewundern. Eine Bildbetrachtung in Zeiten geschlossener Galerien.
Von Frizzi Krella
Lost in Nature II – XI, 2019, Kohle, Papier
Die Zeichnungen Lost in Nature II-XI und Mondschatten sind subtile Niederschriften aus der Natur, Partituren und Notate nach Pflanzen und Blüten, Ranken und Früchten. Mit zarten Linien aus Kohlestaub und sparsam gesetztem rotem Buntstift sowie expressiv staccatohaften Abreviaturen überträgt Uschi Niehaus Indenbirken vegetabile Zeichensysteme auf Papier. Sowohl die sensible Fragilität als auch die strotzende Kraft der Natur finden im Verschwinden und Zum-Vorschein-Kommen, in der Unschärfe und Schärfe der Zeichnung ihre Entsprechungen. Zart auf das Papier gehauchte Pflanzenerscheinungen stehen im feinsinnigen Wechselspiel mit dahinterliegenden Zeichnungen, die durch das lichte Papier hindurchscheinen.
Versunken in die Natur, aus ihr schöpfend, aus ihrem unendlichen Reichtum und gleichsam aus ihrer Flüchtigkeit im Werden und Vergehen, schafft Uschi Niehaus Indenbirken immer wieder neue Werke. Zugleich lassen ihre Arbeiten wie auch der Titel der letzten Ausstellung in der Guardini Galerie – Lost-in-Nature – die Gefährdung dessen sichtbar werden, was wir Natur nennen. Sie werfen uns in aller Konsequenz auf unser eigenes Dasein und die Verantwortung zurück, die wir dafür übernehmen müssen.
Besonders in Zeiten der Kontaktsperre während der Corona-Pandemie zieht uns die Natur immer wieder in ihren Bann; in ihrer Schönheit, Zärtlichkeit, Gewaltmächtigkeit und Fragilität nimmt sie uns mit in den Kosmos ihrer unendlichen Formen- und Erscheinungswelten. Wenn wir ihr begegnen, offenbart sie uns ihre Geheimnisse in allen Farben und Strukturen, gibt sie uns eine Ahnung von der Großartigkeit dessen, was sie als Ganzheit darstellt, ob beim Durchstreifen der von der Eiszeit zurückgelassenen Buchenwälder im Norden Berlins oder in den Parkanalgen und prächtigen Gärten unserer Städte.
Allein die Blätter und Blüten der Pflanzen offenbaren diese schier mannigfache Vielfalt: sie sind nadelförmig, schuppenförmig, binsenartig und lineal, lanzettlich und elliptisch, rund, keilig und spatelig, rautenförmig, schildförmig, herzförmig und nierenförmig, pfeilförmig, spießförmig oder geöhrt.
Wind, 2018, Acryl, Kohle, Nessel, 12-tlg
Auch die Rosen, die kugelrunden, duftenden Blütenbälle, treten in einem kräftigen Fortissimo der Zeichenkohle lautstark hervor – ähnlich wie im raumgreifenden Tableau Wind. Dieses setzt sich aus zwölf Einzelbildern zusammen und ist die Fortsetzung einer früheren Arbeit mit dem Titel „Von heimlichen Rosen“, eine Rückbindung an das Gedicht von Hans Christian Morgenstern. Viele Farbschichten sind auf den Nesselstoff aufgetragen, oft beginnt die Künstlerin mit leuchtenden Farben, bevor sie dann wieder hellere Grau-Weiß-Töne darüberlegt. Sie malt mit flüssiger Acrylfarbe, die sich langsam trocknend mit dem Grund verbindet oder Spuren ziehend über das Bild läuft. Farbschichten und Farbverläufe mischen und überlagern sich, sie lassen Darunterliegendes diaphan durchscheinen. Die kräftig farbigen Kreiskringel in Gelb, Blau und Magenta entwickeln eine unglaubliche Strahlkraft. Die drei farbigen Rosen-Bilder sind wohl als ein Triptychon in Reihung entstanden, im Prozess des Arbeitens setzte Niehaus sie mit neun anderen Bildern zusammen, vertauscht sie in Bezug auf die Position ihrer Entstehung und fügt sie zu einem neuen Ganzen, einem Polyptychon zusammen. Über die grauweißen Bilder, die sich alle in ihren Nuancen unterscheiden, ist sie wiederum mit Kohle zeichnend in kurvigen Schwüngen einer großen Geste gegangen. Durch die Vertauschungen entstehen bewusste Brüche, dennoch ist das ursprüngliche Ganze zu erkennen. Der Betrachter steigt in dieses Spiel ein, beginnt zu variieren und im Kopf die ursprüngliche Ordnung wiederherzustellen.
Niehaus zitiert Verse, indem sie farbige Blüten rhythmisch auf das Bild setzt, sie zitiert Hans Christian Morgenstern: die Rosen als ein Symbol der Liebe und der Vergänglichkeit. „Du brichst herein mit rauen Sinnen, / als wie ein Wind in einem Wald – / und wie ein Duft wehst du von hinnen, / dir selbst verwandelte Gestalt.“ Der Wind als gestaltgebendes Element, hier in der Verwirbelung der Ordnung umgesetzt. So verweisen Niehaus‘ Rosen nicht nur auf die späten Rosen-Bilder von Cy Twombly, sie sind gleichsam eine Hommage an Claude Monets Nymphéas.
Wie der Same in die Erde fällt, stirbt und Neues hervorbringt – ein Bild des Paulus (1 Kor 15,35-44) – werden auch im künstlerischen Akt des Schöpfens die Formen und Ideen immer wieder aufs Neue geschaffen und geboren.
Frizzi Krella studierte Kunstgeschichte, Archäologie sowie romanistische Literatur- und Sprachwissenschaften in Berlin und Paris. Veröffentlichungen zur Kunst der Moderne und zu zeitgenössischen künstlerischen Positionen. Als freischaffende Kunsthistorikerin und Kuratorin lebt in Berlin und kuratiert neben zahlreichen anderen Projekten die Ausstellungen in der Guardini Galerie. Während der Kontaktsperre entdeckt sie die Philosophie des Schattens des japanischen Schriftstellers Tanizaki Jun’ichiro für sich.