Guardini akut | Liturgie ohne Resonanzraum?

Guardini akut | KW 16/2020

Liturgie ohne Resonanzraum? Gottesdienst in der Krise

In diesen Tagen fungiert der Priester, der allein die Eucharistie feiert, als Stellvertreter der Gläubigen. Aber legt die Coronakrise nicht doch auch eine Krise des Gottesdienstes und der Kirche offen, die zu Entscheidungen drängt?
Von Albert Gerhards

„Dir ist Schweigen Lobgesang, Gott, auf dem Zion“ beginnt die Einheitsübersetzung von 2016 den 65. Psalm. Sie folgt damit wie schon Martin Luther dem hebräischen Text, während die ältere Einheitsübersetzung lautete: „Dir gebührt Lobgesang, Gott, auf dem Zion.“ Dass sich die Fachleute für die schwierigere Lesart entschieden haben, gleicht in diesem Jahr der abgesagten öffentlichen Ostergottesdienste einer Prophetie. „Erschalle laut, Triumphgesang“ ist nicht angesagt, der Osterjubel findet bei verschlossenen Kirchen keinen Resonanzraum.
Und doch wurde Ostern auf vielfältige Weise gefeiert. Neben den regulären Fernsehgottesdiensten – nun in minimaler Besetzung – gab es Livestreaming auf den verschiedenen Ebenen der Diözesen, Stadtdekanaten und Pfarreien. Von den Liturgischen Instituten, den Liturgiereferaten der Bistümer und den Liturgieausschüssen der Pfarreien wurden vielfältige Anregungen für Hausgottesdienste in gedruckter Form und über das Internet zur Verfügung gestellt. Einige versuchten, die Raumdistanz zu überbrücken, so die Essener Jesuiten über ein Video-Konferenzsystem. Durch die Möglichkeit, einander zu sehen und zu hören, durch die gemeinsam vollzogenen Gebete und Gesänge sowie die verwendeten Symbole war innere und äußere Teilnahme durchaus möglich, die freilich bei der Kommunion endete. Aus diesem Grund haben andere auf das Streaming von Eucharistiefeiern verzichtet und sich auf die Wortkommunion in den unterschiedlichsten Gestalten konzentriert. Aus dem Vatikan kamen mit dem vorgezogenen Segen ‚Urbi et Orbi‘ und dem Kreuzweg am Karfreitag eindrucksvolle Momente.
Trotzdem: Bei all den anerkennenswerten Versuchen, gottesdienstliche Gemeinschaft auf digitale oder symbolische Weise zu vermitteln, bleibt die Differenzerfahrung für viele vorherrschend und legt sich wie ein dunkler Schatten auf die Seele, gleichsam als ein andauernder Karsamstag. Wann wird es wieder volle Teilnahme geben, und das heißt in Bezug auf die Messe: mit Kommunionempfang? Kann communio, Gemeinschaft, stellvertretend repräsentiert werden? Gewiss tun dies klösterliche Gemeinschaften seit Urzeiten, und einige Klöster vermitteln das auch überzeugend im Internet. Kein Gebet der Kirche, erst recht keine Eucharistiefeier, ist rein privat – das wissen nicht nur die Theologen. Was aber wird zum Ausdruck gebracht, wenn ein einsam am Altar stehender Priester vor leeren Bänken in die Kamera schauend betet und vor der Kamera die Spezies konsumiert? Der Theologe Daniel Bogner kommentierte die Feiern hinter verschlossenen Kirchentüren: „Darin steckt die Botschaft: Das Gottesvolk ist entbehrlich, wichtig ist, dass der Klerus feiert. Für die Leute bleibt so nur die mehr oder weniger passive Rolle der Zuschauer. Da muss es andere Lösungen geben“ (F.A.S. vom 12.4.2020). Priesterlicher Dienst ist wesentlich Stellvertretung, darauf haben Bischöfe im Zusammenhang mit den gehaltenen oder verschobenen Chrisammessen hingewiesen. Aber rechtfertigt die derzeitige Notlage, sich mit einem Verständnis von Stellvertretung zufrieden zu geben, das eigentlich seit Beginn des vorigen Jahrhunderts durch Papst Pius X. als überwunden gilt: der Priester als exklusiver Liturge? Ist die „Hauskirche“, von der jetzt viel die Rede ist, nur ein Placebo oder doch Urzelle der Una Sancta, deren Gebete wirklicher Gottesdienst auch in Stellvertretung für andere sind? Wie verhalten sich dann die Hauskirchen einer Gemeinde und die Gemeindeleitung zueinander? Wird man nach der Krise zur Tagesordnung zurückkehren? Mit Glanz und Gloria? Oder legt die Coronakrise nicht doch auch eine Krise des Gottesdienstes und der Kirche offen, die zu Entscheidungen drängt?

Wenn für Gott Schweigen Lobgesang ist, dann kann möglicherweise aus der gegenwärtigen Differenzerfahrung etwas Neues entstehen. „Er ist nicht hier“, sagt im Matthäusevangelium der Engel zu den Frauen am Grab (Mt 28, 6). Erst schrittweise lernen die Jüngerinnen und Jünger Jesu, wo der Auferstandene zu finden ist: gewiss wo immer zwei oder drei in seinem Namen versammelt sind (Mt 18,20), aber auch wo Hungrige gesättigt, Durstige getränkt, Fremde aufgenommen, Nackte bekleidet, Kranke besucht, Gefangene aufgesucht werden (Mt 25, 35-36) – Diakonie ist wie die Liturgie Erfüllung des Gedächtnisauftrags.
Die gegenwärtige Situation setzt unglaublich viel an Kreativität frei, um einander Zeichen der Verbundenheit und ganz handfeste Hilfe im Alltag zukommen zu lassen. Vergessene Qualitäten menschlicher Zuwendung bestimmen wieder stärker unser Zusammenleben.
Wenn wir nach der Krise – hoffentlich – in die Kirchen zurückkehren werden, wird wohl vieles anders sein. Wenn es gut geht, trägt das erzwungene Schweigen und das stille Handeln Früchte, Früchte aus den Erfahrungen wiedergewonnener Nähe, auch für den Gottesdienst.


Prof. Dr. Albert Gerhards, seit 1976 geweihter Priester, war bis zu seiner Emeritierung 2017 Inhaber des Lehrstuhls für Liturgiewissenschaft an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn. Er war u. a. als Leiter der Arbeitsgruppe für kirchliche Architektur und sakrale Kunst und Berater der Liturgiekommission der Deutschen Bischofskonferenz tätig. Seit diesem Jahr ist er Sprecher der DFG-Forschungsgruppe „Sakralraumtransformation“. Er ist Mitglied der Guardini Stiftung.

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