Guardini akut | Krieg in Europa

Guardini akut | 10. März 2022 | Sonderausgabe zum Krieg in der Ukraine

Krieg in Europa 

Nachtrag zum Interview vom 17. Februar 2022 mit Patricia Löwe
Von Christoph Jäger (Guardini Professor)

Wir sind in einem Albtraum aufgewacht, dessen Dimension und Folgen kaum abzusehen sind. Im Interview, das Patricia Löwe mit mir am 17.02.2022, eine Woche vor Kriegsbeginn, führte und unter dem Titel „Nicht den Verstand verlieren!“ veröffentlichte, hatte ich trotz der sich verdichtenden Anzeichen noch gehofft, Putin würde sich von einer Invasion der Ukraine abhalten lassen. Ich erwähnte sich verschärfende wirtschaftlich-territoriale Konflikte, in deren Angesicht die Philosophie vor allem als Stimme der Vernunft wahrzunehmen sei, vermied jedoch den Begriff eines womöglich bevorstehenden, von einer Nuklearmacht ausgehenden Angriffskrieges in Europa. Unsere – vielleicht zu jenem Zeitpunkt schon nicht mehr realistische – Hoffnung auf sein Ausbleiben ist in schockierender Weise frustriert worden. Ich ergänze meine Ausführungen daher an dieser Stelle um einige kursorische Gedanken zur gegenwärtigen Situation.

Es ist nicht leicht, sich angesichts der bisher ungebremst eskalierenden Gewalt und der humanitären Katastrophen den Blick nicht von Emotionen wie Entsetzen, Angst oder Zorn verstellen zu lassen. Aber es hilft nichts, und es bleibt dabei: Selten waren die politischen Entscheidungsträger und wir – als Akteure der Zivilgesellschaft, als Weltbürger und als Wissenschaftler – deutlicher dazu aufgerufen, bei allem emotionalen Druck nach den Geboten der Vernunft zu denken und zu handeln.

Vieles ist in den ersten zwei Kriegswochen bereits gesagt worden, und dies ist nicht der Ort für Spekulationen darüber, wie die Katastrophe weiter verlaufen wird, aufgrund welcher politischer Fehler sie nicht verhindert wurde oder wie die Welt in drei Wochen, drei Monaten oder drei Jahren aussehen wird. Ich beginne daher mit einer persönlichen Bemerkung zu einem Thema, über das viele Medien erstaunlich gelassen informieren. Danach gehe ich über zu der abstrakteren Leitfrage des ursprünglichen Interviews nach der Rolle der Philosophie in Krisenzeiten.

Die gegenwärtigen Diskussionen sind wesentlich getragen von der Drohkulisse eines möglichen Einsatzes von Nuklearwaffen. Doch die sogenannte „friedliche Nutzung“ der Kernkraft stellt, auch und gerade in Kriegszeiten, eine nicht geringere, vielleicht sogar größere Gefahr dar. Gleich in den ersten Kriegstagen haben russische Truppen die Atomruine von Tschernobyl eingenommen. Das Gebiet, auf dem die Stadt Pripjat lag, ist bereits jetzt für zehntausende von Jahren unbewohnbar, mehr als zehntausend Quadratkilometer sind für tausende von Jahren für die ukrainische Landwirtschaft – eine der global wichtigsten – nicht mehr nutzbar. Inzwischen wurden auch bei Kiew ein Entsorgungslager für leicht radioaktive Abfälle und ein Nuklearlabor in Charkow beschossen und getroffen, und der größte AKW-Komplex Europas in Saporischschja, wo hochaktive Abfälle unter freiem Himmel gelagert werden, wurde ebenfalls unter Kämpfen erobert. Wie die internationale Atomenergiebehörde IAEA „tief besorgt“ mitteilt, ist nicht nur die Datenfernübertragung von Tschernobyl und von Saporischschja inzwischen komplett ausgefallen; in Tschernobyl soll die Stromversorgung unterbrochen und von Dieselgeneratoren übernommen worden sein. Derzeit weiß niemand, was während des Krieges – und darüber hinaus – aus diesen Nuklear-Kriegsschauplätzen (und den weiteren ukrainischen Kernkraftwerken) wird. Wir wissen indessen, dass, auch wenn es nicht zum Einsatz militärischer Atomwaffen kommen sollte, Beschuss, Cyberangriffe oder schlicht längere Unterbrechungen der Stromversorgung in einem der AKW leicht zu einem nuklearen Inferno führen können. Was auch immer man über das Risiko eines Atomkrieges denken mag, aus meiner Sicht liegen die Folgerungen für die Diskussion um die Förderung und den Ausbau der sogenannten „friedlichen Nutzung“ der Kernkraft in Europa auf der Hand.

Nach diesem eher persönlichen Statement greife ich das Kernthema des Interviews auf, die gesellschaftliche Rolle von Philosophie auch und gerade in Krisensituationen, und ich werde diese Frage als Vertreter der Profession betrachten. Philosophie führt gesellschaftlich wichtige Diskurse und versucht, rationales und vernünftiges Denken zu fördern und zu kultivieren. Im Hinblick auf die aktuellen Ereignisse kann man dies an zwei Aspekten konkretisieren, (i) der (im Interview bereits angesprochenen) philosophischen Grundlagenforschung und (ii) der Kompetenz von Philosophie, Weltanschauungen und deren theoretische Folien kritisch zu analysieren und auf Sinn und Unsinn hin abzuklopfen. Zum ersten Punkt folgendes Beispiel: Für ihren 11. internationalen Kongress im September 2022 an der Humboldt-Universität richtet die Gesellschaft für Analytische Philosophie angesichts des Krieges ein Sonder-Panel oder evtl. fachpolitisches Forum ein, wo es Vorträge und Diskussionen etwa über die „humanitären Kosten heroischer Selbstverteidigung“ (Newsletter der GAP, 02.03.2022) geben wird, vielleicht über die Kosten von Sanktionen, die Logik der Abschreckung, staatliche Notwehr und das Recht auf Verteidigung, Beistandspflichten usw. Wie dringlich es ist, solche Fragen in all ihrer Problematik und Tiefe begrifflich und moralisch zu diskutieren, zeigt sich derzeit, einmal mehr, in bestürzender Weise. Sie professionell und hartnäckig zu verfolgen, ist das Geschäft der Philosophie.

Zweitens entstehen die verirrten Weltbilder und Größenfantasien, Verschwörungsmythen und Paranoia von Despoten und Autokraten sowie die Weltsichten ihrer Sympathisant:innen nicht im geistigen und kulturellen Vakuum, sondern in Kontexten, die die Zivilgesellschaft und ihre Intellektuellen beeinflussen können. Nehmen wir den (aufhaltsamen) Aufstieg des esoterisch-rechtsextremen Denkers Alexander Dugin, der in Russland, den USA sowie vielen europäischen Staaten, inklusive Deutschland, in den letzten Jahren zu einem Vordenker rechtsextremer Kreise avanciert ist und verschiedenen Quellen zufolge signifikanten Einfluss auch auf Putin oder dessen engeren Zirkel haben soll (die Informationen hierüber sind kontrovers). Dugin war einige Jahre Soziologieprofessor an der Universität Moskau. Nachdem er den Brand von Odessa am 2. Mai 2014 damit kommentierte, dass das ukrainische Blut, das er in sich habe, „mit Blut der Kiewer Junta gereinigt werden“ solle und erklärte: „Ich glaube, man muss töten, töten und töten. Ich sage das als Professor“ (zit. nach Julia Smirnova in WELT online, „Putins Vordenker, ein rechtsradikaler Guru“, 11.07.2014), wurde er aufgrund einer Petition innerhalb der Moskauer Universität mit mehr als 10.000 Unterzeichner:innen entlassen. Inzwischen soll er eine „4. Politische Theorie“ ersonnen haben, in der offenbar Heideggers Begriff des Daseins zur metaphysischen Analyse des Wesens des Staates bemüht wird. In seinen Publikationen faselt er, Orwells Dystopie zu einem positiven Narrativ umdeutend, von einem russisch geführten Eurasien und einem Kampf der Zivilisationen, in dem „Russland und andere ‚Festlandzivilisationen‘ den USA und anderen liberalen ‚atlantischen Zivilisationen'“ antagonistisch gegenüberstehen (ebd.).

Ich habe diese Hinweise Sekundärquellen entnommen und vermute, dass es eines starken akademischen (und physischen) Magens bedarf, sich mit Dugins Publikationen zu beschäftigen. Worum es geht, ist aber dieses: Es gehört zur täglichen Arbeit der Philosophie, metaphysische, historische, anthropologische, soziologische Theorien usw. zu rekonstruieren und ihre Gehalte auf Sinn und Unsinn hin zu überprüfen. Zum besonderen Geschäft der Religionsphilosophie gehört es dabei, nicht nur im engeren Sinne religiöse Sichtweisen, sondern auch, allgemeiner, Weltbilder und Weltanschauungen auf ihre Vernünftigkeit hin abzuklopfen. Philosophie und Religionsphilosophie vermitteln und kultivieren somit auch die Fähigkeit, verirrte und verwirrte, wahnwitzige und gefährliche Gesellschafts-, Geschichts- und Politik-„Theorien“ oder deren metaphysischen Überbau zu rekonstruieren und sie rational nachvollziehbar als abwegig zu entlarven. Narrative wie diejenigen Dugins entpuppen sich dabei schnell als Paradebeispiele theoretischer Absurdität.

Es ist bestürzend, traurig und beschämend, dass es einmal mehr nicht gelungen ist, die 1945 in der Charta der Vereinten Nationen formulierten Ziele zu verwirklichen, „in Frieden miteinander zu leben“ (Präambel) und auf friedliche Weise „internationale Probleme wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und humanitärer Art zu lösen und die Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten umzusetzen“ (Art. 1). Was können wir tun?

Als Menschen und Privatpersonen können wir in naheliegender Weise versuchen, wie so viele es bereits tun, praktisch oder finanziell bei der Bewältigung der humanitären Katastrophen zu helfen. Einige von uns können darüber hinaus versuchen, Hoffnung sowie den Mut und die Energie sich dafür einzusetzen, diesen Planeten für zukünftige Generationen zu erhalten, aus einem Glauben oder einer religiösen Einstellung heraus zu schöpfen. Als Geisteswissenschaftler:in oder Philosoph:in schließlich gilt es auch, die Wirrungen und Verirrungen autoritärer und menschenverachtender Weltbilder und Ideologien sowie den Planeten verheizender Wirtschaftskonzepte, die, wie wir zunehmend am eigenen Leibe erfahren, nicht nur ein Nährboden des ökologischen Kollapses, sondern auch politischen Wahnsinns und menschlicher Katastrophen sind, ans Licht zu zerren und intellektuell zu sezieren.

Weitere Beiträge der Sonderausgabe:
Friedensnote | Von Prof. Michael Rutz
Bewahre mich, Herr, vor dem Hass | Von Dr. Piotr Kubasiak
Europa – Wirklichkeit und Aufgabe | Von Romano Guardini

Grafikdesign Anja Matzker

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