Guardini akut | Inventur…

Guardin akut | KW 37 bis 38/2021

Inventur…

Auszug aus einem Briefwechsel zum Kurzfilmwettbewerb „Confessions“, den die Guardini Stiftung ausgeschrieben hat. Der Wettbewerb befasst sich mit den Erfahrungen und den Erwartungen, die hierzulande Menschen mit der Pandemie gemacht haben und wahrscheinlich auf noch immer nicht absehbare Zeit weiterhin machen werden.
Von Madeleine Burghardt und Peter Paul Kubitz

Madeleine Burghardt: Lieber Peter Paul, wir müssen reden!

Peter Paul Kubitz: Worüber, liebe Madeleine, ‚müssen‘ wir reden?

MB: Ich möchte über Hoffnung, Sehnsucht und Enttäuschung sprechen. Über endlose Spaziergänge, stille Straßen und leere Fenster. Über Trauer und Freude. Über eingeblendete Inzidenzen, volle Krankenhäuser und leere Cafés. Über Erinnerungen. Erinnerungen an eine Zeit vor 2020. Eine Zeit, in der das Leben in den Straßen tobte, Menschen sich umarmten und sich lächelnde Gesichter ihren Weg durch die Züge und Buse bahnten.
Es mag theatralisch klingen, aber kommt uns diese Zeit nicht unglaublich weit weg vor?
Die Lockerungen halten Einzug in die Städte, aber bekommen wir nicht alle jedes Mal einen kleinen Schock, wenn irgendwo eine Person einen Hustenanfall hat oder Stress, wenn wir merken, dass unsere Maske noch auf dem Regal in unserer Wohnung liegt? Die Pandemie wird uns auch in den folgenden Monaten oder Jahren (?) in unserem Alltag begleiten und uns erinnern lassen. Vorsichtig sein. Rücksicht nehmen. Aufeinander achten. Sie ist ein Weckruf für mehr Achtsamkeit in unserem eigenen Leben und in dem der Anderen.
Was, denkst Du, wird bleiben und Dich begleiten? In welchen Situationen, werden in Deinem Kopf Erinnerungen hochkommen, wirst Du zusammenzucken oder hektisch an deinen Mund greifen, weil Du denkst, Du hast vergessen eine Maske aufzusetzen?

PPK: Dem, was Du da beschreibst, dem kann ich in weiten Teilen folgen  auch wenn mir Dein Rückblick auf die Zeit vor Covid-19 schon die Welt, wie sie war, sehr zu verklären scheint. Wir waren und wir sind doch nicht vor zwei Jahren uns umarmend und permanent mit einem Lächeln auf den Lippen durch die Welt gegangen.
Gab es nicht sogar am Anfang der Pandemie, im Frühjahr 2020, bei vielen von uns eine sehr kritische und selbstkritische, zumindest nachdenkliche Haltung gegenüber unseren bis dahin üblichen Lebensweisen, persönlich wie gesellschaftlich? Und keimte da nicht für kurze Zeit auch – neben aller Angst, allem Schrecken, auch allem Mitgefühl und aller Trauer – auch die Hoffnung auf, nun würden wir uns endlich – höchste Zeit!  mal mit den wirklichen Themen in unser aller Leben auseinandersetzen, nicht verdrängen, was uns in Wahrheit bewegt oder aufhält, individuell und gesellschaftlich?
Im April 2020 träumte der französische Philosoph und Soziologe Bruno Latour in einem Interview mit „France inter“ sogar von einer globalen Revolution durch das Virus, die vieles außer Kraft setzen, ja in sein Gegenteil versetzen würde oder könnte, was bis dahin undenkbar schien. Es sei jetzt, so Latour damals, an der Zeit dafür zu kämpfen, dass die wirtschaftliche Erholung, wenn die Krise vorbei ist, nicht das alte Klimaregime zurückbringt, gegen das wir bisher vergeblich zu kämpfen versucht hätten. Die erste Lektion des Coronavirus sei auch die verblüffendste gewesen: Es habe sich gezeigt, „dass es möglich ist, in wenigen Wochen überall und gleichzeitig auf der Welt ein Wirtschaftssystem auszusetzen, von dem uns bisher gesagt wurde, es sei unmöglich, es zu verlangsamen oder umzulenken. Allen Argumenten, die von den Ökologen über die Veränderung unserer Lebensstile vorgebracht wurden, wurde stets widersprochen mit dem Argument der irreversiblen Kraft des ‚Zuges des Fortschritts‘, der nichts aus seinen Gleisen herauskommen könne, ‚wegen‘, so hieß es, ‚der Globalisierung‘.“
Doch, so Latour weiter im großen Rundumschlag: „Wenn alles gestoppt wird, kann alles in Frage gestellt werden.“ „Wenn alles angehalten wird, kann alles in Frage gestellt, umgelenkt, ausgewählt, sortiert, endgültig unterbrochen oder im Gegenteil sogar zurückgenommen werden.“ Jetzt sei es an der Zeit, eine Inventur zu machen. „Auf die Bitte des gesunden Menschenverstands: ‚Lasst uns die Produktion so schnell wie möglich wieder aufnehmen‘, müssten wir“, schrieb er, „mit einem Schrei antworten: ‚Alles, nur das nicht!‘ Das Letzte, was wir tun sollten, wäre einfach zu all dem zurückzukehren, was wir früher getan haben.“
Es gehe nicht mehr darum, ein Produktionssystem zu übernehmen oder zu beeinflussen, sondern aufzuhören, die Produktion als einziges Prinzip der Beziehung zur Welt anzunehmen.
Denn die Ungerechtigkeit beschränke sich nicht auf die bloße Umverteilung der „Früchte des Fortschritts“, sie beträfe auch „die Art und Weise, wie der Planet diese Früchte hervorbringt. Das bedeutet nicht, auf die Liebe oder das Trinkwasser zu verzichten, sondern zu lernen, jedes Segment dieses bedeutenden, angeblich unumkehrbaren [globalen Wirtschafts-]Systems zu erwägen, jede der angeblich unverzichtbaren Verbindungen in Frage zu stellen und von Generation zu Generation zu untersuchen, was wünschenswert ist und was nicht mehr wünschenswert ist.“
Ich kann der Haltung, die in diesem Appell steckt, zwar einiges abgewinnen, bin jedoch eineinhalb Jahre später noch skeptischer geworden als seinerzeit, als ich den Artikel las.
Sehnen sich – mal von den Corona-Leugnern abgesehen – inzwischen nicht viele, ja wahrscheinlich die meisten von uns nach den alten Tagen aus der Zeit vor der Pandemie zurück? Ist unsere Geduld, veränderte Verhältnisse auch zu neuem Denken, Fühlen und Verhalten zu nutzen, nicht längst weitgehend erschöpft – obschon wir, verglichen mit so vielen anderen Ländern in dieser Welt, ja auch in dieser leidigen und leidvollen Angelegenheit immer noch recht privilegiert leben? Ich fürchte, wir verhalten uns wie schwer Erkrankte, die alle ihre Schwüre, ihr Leben zu verändern, wären nur das Leiden und der Schmerz vorbei, alsbald vergessen, sobald es soweit ist. Was meinst Du?

Hier geht’s zum zweiten Teil des Gesprächs.

Die Zitate von Bruno Latour stammen aus: Radio France/France inter, 3. April 2020; „kubus“, TU Berlin; Martine Legris, „Boutique des Science de Lille“.


 

Madeleine Burghardt studiert im siebten Semester Geographie an der Humboldt-Universität zu Berlin. In zwei Auslandsaufenthalten (Philippinen und Ungarn) konnte sie internationale Erfahrung sammeln. Im Studium konzentriert sie sich auf politische und wirtschaftliche Fragestellungen. Nebenher arbeitet Madeleine Burghardt ehrenamtlich bei der Lebenshilfe Berlin und ist seit Juni 2021 im Projekt ,,Confessions“ der Guardini Stiftung tätig.

Der Autor und Filmemacher Peter Paul Kubitz unterrichtete u.a. Film- und Mediengeschichte an den Universitäten in Marburg und Leipzig, an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) und am HyperWerk/Institut Experimentelle Design- und Medienkulturen an der Hochschule für Gestaltung und Kunst (FHNW) in Basel. Von 2005 bis 2015 war er Programmdirektor im Bereich Fernsehen der Stiftung Deutsche Kinemathek und von 2018 bis 2021 Fellow am Museum der Kulturen in Basel. Er ist Vorsitzender des Fachbeirats ‚Film und Neue Medien’ der Guardini Stiftung und lebt und arbeitet in Berlin und Luckenwalde.