Guardini akut | Im Bann der „Thomas-Sekunde“

Guardini akut | KW 11 bis 12/2022

Im Bann der „Thomas-Sekunde“
Vom Recht auf Zweifel

Der Heilige Thomas als Querdenker. Aber war es wirklich nötig, den Finger in die Wunde zu legen?
Von Georg Langenhorst

Man stelle sich vor: Da hat einer den Lebensweg Jesu begleitet; gebannt, fasziniert, bereit, seine ganze Existenz auf diesen Mann auszurichten. Und dann stirbt Jesus elendiglich am Kreuz. Und mit ihm alle eigenen Hoffnungen. Doch dann erscheint er seinen Jüngerinnen und Jüngern. Aber dieser eine, Thomas Didymus, war bei der Erscheinung Jesu vor ‚allen‘ nicht dabei, so will es die Dramaturgie des Erzählfadens (fortan Joh 20,24– 29).

Die anderen also berichten ihm aufgeregt und aufgewühlt von ihrer Erfahrung: „Wir haben den Herrn gesehen.“ Wie reagiert man, wenn andere einem von einem solchen, völlig unfassbaren Ereignis berichten? Von etwas, das gegen sämtliche Prinzipen der Vernunft und der lebenslang gewachsenen Überzeugung verstößt? Mit Unglauben. Mit Zweifel. Mit Skepsis.

So auch hier, Gott sei Dank. Denn die Reaktion des Thomas, dieses Querdenkers, ist nur zu verständlich. Das kann man nicht glauben! Thomas lässt sich freilich auch im Zweifel einen Ausweg offen, formuliert aus der Überzeugung heraus, dass die von ihm genannten Bedingungen ja doch nicht erfüllt werden können: „Wenn ich nicht das Mal der Nägel an seinen Händen sehe und wenn ich meinen Finger nicht in das Mal der Nägel und meine Hand nicht in seine Seite lege, glaube ich nicht.“ Ein doppelter Unglaube: Er glaubt nicht seinen Apostel-Kollegen als Überbringern der Botschaft, aber auch nicht an die Auferweckung als Inhalt dieser Botschaft. Was will er also? Was wäre der einzige überzeugende Beweis gegen seinen Unglauben? Sehen und mit den Händen fühlen. Sinnlich so wahrnehmen, dass kein Zweifel besteht. Erst dann wäre (s)ein Glaube möglich. Wie nachvollziehbar!

Was aber wird aus dieser erzählerischen Herausforderung, die einer Fortsetzung und Antwort bedarf? Acht Tage später, gleicher Ort, gleiches Personal, dieses Mal jedoch Thomas inklusive. Wieder tritt der auferweckte Jesus geheimnisvoll auf, „bei verschlossenen Türen“. Wieder begrüßt er die Seinen mit dem Schalom-Gruß: „Friede sei mit euch!“ Dann aber folgt jene dialogische Begegnung, die Generationen von Künstlerinnen und Künstlern immer wieder versucht haben, ins Bild oder in plastische Darstellung zu rücken, am eindrücklichsten gelungen Ernst Barlach (1870–1938) in der Skulptur „Das Wiedersehen“ (1930).

Jesus wendet sich vor allen anderen Thomas zu: „Streck deinen Finger hierher aus und sieh meine Hände! Streck deine Hand aus und leg sie in meine Seite und sei nicht ungläubig, sondern gläubig!“ Gegen alle Erwartungen: Die Bedingungen, die Thomas benannt hatte, werden erfüllt: Er sieht und er darf fühlen! Wie sollte er da in seinem quer-denkenden Unglauben bleiben? Der Provokateur wird gerechtfertigt. Der Zweifler darf gegen alles von ihm für möglich Gehaltene glauben!

Auffällig: Wieder einmal weist eine biblische Erzählung eine signifikante Lücke auf. Legt Thomas den Finger tatsächlich an die Wundmale? Berührt er tatsächlich die Seitenwunde mit der Hand? Die Erzählung schweigt hierüber. Von der Logik her ist diese empirische Überprüfung tatsächlich gerade nicht nötig. Der Erzähler Patrick Roth nennt diesen Moment die „Thomassekunde“. Den Moment der Erkenntnis, das gegen alle Skepsis seine Bedingungen erfüllt sind. Die Sinnspitze besteht gerade darauf, dass die Probe durch Ergreifen nicht notwendig ist, um zu begreifen. Das innere Einsehen braucht nicht den äußeren Beleg.

Wie wunderbar, dass diese Geschichte erzählt wird! Dass Zweifel und Anfragen nicht verschwiegen werden. Dass sie Teil der Jesustradition selbst sind, nicht Ausbrüche aus der Zugehörigkeit zu den Glaubenden. Spätestens seit Thomas steht fest: Glaube und Zweifel gehören zusammen. Der Zweifel hat seinen Platz, in jeder Lebensgeschichte anders. Aber er muss – und soll – nicht das letzte Wort haben.

Grafikdesign Anja Matzker


Der Theologe und Guardini-Experte Prof. Dr. Georg Langenhorst ist Inhaber des Lehrstuhls für Religionspädagogik und Didaktik des Katholischen Religionsunterrichts an der Universität Augsburg.

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