Guardini akut | „Ich bin ein preußischer Katholik“

Guardini akut | KW 11/2021

„Ich bin ein preußischer Katholik“

Aus Schlesien vertrieben lernte unser Autor in der Nachwende-Ära schätzen, dass Strenge, Zuverlässigkeit und Pflichtgefühl auch einer bequem gewordenen Kirche gut zu Gesicht stünden.
Von Wolfgang Thierse

„Ich bin ein preußischer Katholik.“ Was nur hat mich geritten, eine solche leichtfertige Äußerung zu tun, für die ich jetzt haftbar gemacht werden soll. Nun denn, ich will mich nicht drücken und stehe tapfer zu der steilen Selbstbezichtigung. (Schon dies will mir einigermaßen preußisch erscheinen.)

Zunächst und vor allem ist diese Selbstbezeichnung biografisch getönt. Geboren bin ich in Breslau, der Hauptstadt Schlesiens, seit Friedrich II. und seinem Krieg gegen Österreich Teil (damals der reichste) von Preußen. Alle Mitglieder meiner Familie, väterlicher- wie mütterlicherseits, lebten in Schlesien, in Nieder- und in Oberschlesien, was konfessionell ein Unterschied war. Die Herkunft des Familiennamens Thierse soll allerdings französisch sein. Man streiche das abschließende „e“ und hat einen ganz ordentlichen französischen Namen. Ein berühmter Politiker hieß so, Adolphe Thiers, und eine Stadt gleichen Namens gibt es auch, das ist doch etwas. Vorbei. Das Jahr 1945, Flucht und Vertreibung haben die große Familie in viele Winde zerstreut, den kleineren Teil ins östliche Deutschland, die spätere DDR. Und uns, die vierköpfige Familie, in eine südthüringische Kleinstadt hart an der Grenze zum unterfränkischen Bayern.

Eine erste Prägung: Wir waren Fremde, nicht sonderlich willkommen. Waren katholisch, wo alle anderen evangelisch waren (damals noch). Wir sprachen hochdeutsch (meine Eltern achteten sehr darauf) mit leicht schlesischem Beiklang, die anderen Kinder sprachen südthüringisches Fränkisch. Wir hatten keinerlei Besitz, die Nachbarn hatten die bescheidenen Reichtümer einer fast unzerstörten Stadt. Die kleine katholische Gemeinde war ganz neu – bis 1945 gab es keinerlei Katholiken in der Gegend – und bestand aus den Geflüchteten und Vertriebenen aus Schlesien, Ostpreußen (dem Ermland) und den Sudeten. Sie war der Ort der Erinnerung und der Trauer, der Bewältigung des Schicksals von Not und Heimatverlust und Familientrennung – im gemeinsamen Glauben. Der südliche Teil Thüringens, also auch unsere Gemeinde, gehörte zum Bistum Würzburg, aber man sang die Kirchenlieder der alten Heimat. Ich bin mit schlesisch-sudentendeutscher Sentimentalität aufgewachsen. Wir waren ein paar hundert Katholiken, in der kleinen Stadt und verstreut in den umliegenden Dörfern: Wahrlich eine kleine Herde, die sich sonntags in der „Notkirche“, einer Baracke, versammelte, in der wir winters froren und sommers schwitzten. Auch später erlaubte der kommunistische Staat keinen Kirchenbau, sondern nur die Umwandlung der hölzernen in eine steinerne Baracke.

Das war die nachhaltige Prägung: Die Erfahrung einer armen, kleinen, angefochtenen Kirche. Ein katholisches Milieu habe ich niemals erlebt, sondern Minderheitskatholizismus, Diaspora, die Mühsal der Selbstbehauptung, den Trotz des Durchhaltens. Das galt alles nicht weniger, sondern eher mehr für die Folgejahrzehnte der 60er bis 80er in der DDR, dieser weltanschaulichen Erziehungsdiktatur. Sich nicht anzupassen, dem obrigkeitlichen Druck nicht nachzugeben, sich nur in Grenzen zu assimilieren und doch einen modus vivendi zu finden mit Verhältnissen, die man sich nicht hat aussuchen können. Nicht dazuzugehören und trotzdem nicht ‚abzuhauen‘ (wie in den 50ern bis zum Mauerbau noch Hunderttausende), sondern in trotziger Treue dazubleiben, weil „auf dieses Land unser Los gefallen war…“. Christsein, Katholischsein – das hieß, sich immer neu entscheiden zu müssen, denn nichts war durch den ‚Zwang des Milieus‘ vorgegeben. Minderheit, Diaspora – da ist nichts selbstverständlich: Am Sonntag zum Gottesdienst zu gehen, zur Ersten Heiligen Kommunion, zum Religionsunterricht am Nachmittag in die Pfarrerwohnung (denn an der Schule hatte Religion nichts zu suchen), sich firmen zu lassen, nicht an der Jugendweihe teilzunehmen – all das bedurfte einer Entscheidung, für die einzustehen man von Kindheit an zu lernen hatte.

Ist das, woran ich mich erinnere, preußisch? Damals wäre es mir gewiss nicht so vorgekommen. Obwohl: Mein Großvater wie mein Vater waren bis 1933 Mitglieder der Zentrumspartei, die Erinnerung an den Kulturkampf in und gegen Preußen war in unserer Familie immer anwesend. Unvergessen bleibt mir die Wut und Enttäuschung (noch Jahrzehnte später) meines Vaters über die Feigheit und den Verrat von 1933 des Herrn von Papen und des Prälaten Kaas, des damaligen Zentrumsvorsitzenden (dessen Namen ich deshalb immer noch im Gedächtnis habe).

Nein, als ‚preußisch‘ habe ich meine katholische Prägung wohl erst empfunden, als ich die westdeutsche Kirche nach 1990, nach der Wiedervereinigung, kennengelernt habe. Sie erschien mir als reiche, soll ich sagen ‚verwöhnte‘ Kirche, voller Selbstverständlichkeiten und Ansehnlichkeiten. Eine wohlgelittene Institution, die mir in ihrer selbstbewussten Präsenz als das genaue Gegenteil der ärmlichen, unsicheren und ängstlichen ‚DDR-Kirche‘ vorkam. Das rheinisch-katholische und das bayerisch-katholische Milieu, sie waren mir zunächst irritierend fremd, aber doch wahrlich nicht unsympathisch. Im Gegenteil: Ich habe es mit ein wenig nachgetragenem Neid betrachtet. (Dieser mein Eindruck sollte nicht als moralisches Urteil missverstanden werden, denn auch ich weiß, ohne die materielle und auch intellektuelle Unterstützung der reichen katholischen Brüder und Schwestern im Westen hätten wir armen Ost-Geschwister vielleicht nicht so einigermaßen überlebt.)

Aber in der Unterscheidung zum rheinischen oder bayerischen Katholizismus wird mir doch deutlich, was ich mit ‚preußisch-katholisch‘ meine: Eine aus der Nicht-Selbstverständlichkeit des (eigenen) Katholizismus resultierende Mischung aus Bescheidenheit und kämpferischer Gesinnung, aus Unsicherheit und Strenge, aus Trotz und Zuverlässigkeit, aus Dabeibleiben und Sich-in-die-Pflicht-nehmen-Lassen. Das ist natürlich alles nicht ohne Ambivalenzen. Die Gefahr des Störrischen, Unbeweglichen, Stramm-Konservativen ist nicht ganz weit weg, auch des möglicherweise Kämpferischen an falschen Fronten (aber immerhin doch des Kämpferischen und nicht bloß des Kuscheligen oder Gewohnheitsmäßigen). Gegen jedes Vorurteil: Ein guter preußischer Katholik ist nicht autoritätsfixiert, sondern durch Minderheitserfahrungen und -kämpfe ‚gestählt‘ und deshalb der tiefsitzenden (und doch eigentlich selbstverständlichen) Überzeugung, dass er nicht wegen der Bischöfe oder des Klerus in der Kirche ist und bleibt (und auch nicht derentwegen, bei welchen ihrer Verfehlungen auch immer, austreten wird). Der preußische Katholik ist eben ein sehr ernster Mensch. Er nimmt sich jedenfalls ziemlich ernst – aber diese Selbstbeschreibung ganz und gar nicht!


 

 

Wolfgang Thierse amtierte von 1998 bis 2005 als Präsident des Deutschen Bundestages und war von 2005 bis 2013 dessen Vizepräsident. In den letzten Tagen der DDR trat er der SPD bei und wurde stellvertretender Parteivorsitzender. Als eines von 13 Mitgliedern der Volkskammer wurde er in den Bundestag gewählt. Wolfgang Thierse ist Vorsitzender der Willy-Brandt-Stiftung sowie Mitherausgeber der Zeitschriften „Publik Forum“ und „Neue Gesellschaft/ Frankfurter Hefte“. 

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