Guardini akut | KW 21/2021
Die Verantwortungslosigkeit der anderen
Während einer Pandemie kann „Verantwortung“ schnell zu einem Kampfbegriff werden. Aber geht es wirklich immer nur um die Verantwortungslosigkeit der anderen oder kann Verantwortungsübernahme auch Identität und Gemeinschaft stiften?
Von Jan Philipp Hahn
I.
Wenn wir im Alltag von Verantwortung sprechen, dann meist, um unser Gegenüber zu ermahnen oder auf eine problematische Dimension seiner Handlung hinzuweisen. Wir behaupten dann, dass eine Person nicht ausreichend verantwortlich gehandelt hat oder notwendige Verantwortung für ihr Handeln nichtwahrgenommen hat. In der Coronakrise wird besonders deutlich, wie sehr wir dazu neigen, anderen Menschen ihr verantwortungsloses Handeln vorzuwerfen: In der Bahn schauen die Fahrgäste strafend den Mann an, der keine Maske trägt und somit das Leben aller Anwesenden womöglich gefährdet. Dieser Vorwurf der Verantwortungslosigkeit kommt uns allzu leicht über die Lippen, gerade dann, wenn wir glauben, selbst die Regeln zu befolgen, uns in verantwortungsvoller Weise einzuschränken und ausreichend über unser Handeln nachgedacht zu haben. Aber eigentlich meint Verantwortungslosigkeit nicht die moralisch verwerfliche Tat selbst, sondern das Begehen der infragestehenden Tat im vollen Bewusstsein für ihre Auswirkungen. Wir unterstellen, dass der Mann in der U-Bahn weiß, dass sein Verzicht auf die Maske das Risiko birgt, andere Menschen zu infizieren, und werfen ihm aus diesem Grund Verantwortungslosigkeit vor, oft ohne zu prüfen, ob diese Vorbedingung eigentlich zutrifft. Im Vorwurf des verantwortungslosen Handelns liegt eine destruktive Kraft, die den Dialog unmöglich macht. Der Vorwurf setzt impliziert voraus, dass man sich der Konsequenzen des eigenen Handelns bewusst war und somit wissentlich gehandelt hat. Genau das Wissen um die Auswirkungen einer Tat ist aber meist schwer überprüfbar und das Gegenteil schwer zu beweisen. Auch kann das Nachdenken über die Auswirkungen zu einer Entscheidung führen, die wiederum ungewünschte Folgen nach sich zieht. Es ist also durchaus möglich, sich trotz einer verantwortungsvoll getroffenen Entscheidung für die negativen Auswirkungen ebenjener verantworten zu müssen. Wenn wir sehen, was eine Handlung tatsächlich bewirkt hat, liegt es nahe, eine Handlung oder Entscheidung aus der Vergangenheit als verantwortungslos zu verurteilen – viel schwerer ist es jedoch, die Auswirkungen der eigenen Handlungen in der Zukunft vorherzusehen und diese in das gegenwärtige Handeln miteinzubeziehen.
II.
Gerade wenn wir an unsere Zukunft denken, wird das Nachdenken über die eigenen Handlungen besonders relevant. Ich nenne hier eine zweite Definition des Begriffs „Verantwortung“, die das Potential hat, zukünftiges Handeln zu formen. Während bisher davon die Rede war, dass Menschen mit dem Vorwurf konfrontiert werden, verantwortungslos gehandelt zu haben und nun die Folgen tragen müssen, fallen mir gleichsam viele Beispiele für Situationen ein, in denen Menschen von ihrer eigenen Verantwortung in positiver Weise sprechen. Menschen sind stolz darauf, dass sie aus freien Stücken Verantwortung für die Gesellschaft übernehmen. Faszinierenderweise können wir Menschen sogar Verantwortung für Dinge auf uns nehmen, für die wir gar nicht oder zumindest nicht persönlich zuständig sind. Überall auf der Welt fühlen Menschen sich verantwortlich für die Bewahrung der Umwelt, für die Vermeidung von Krieg, für die Einhaltung demokratischer Grundprinzipien wie der Meinungsfreiheit. Diese Menschen werden aktiv und engagieren sich, weil sie das Anliegen ernst nehmen und weil sie sich als Teil einer größeren, oft sogar globalen Gemeinschaft verstehen, die wiederum in der Verantwortung steht, mit Blick auf zukünftige Folgen des Handelns der Menschheit etwas zu ändern.
Von sich aus Verantwortung zu übernehmen, ist voraussetzungsreich: Man muss sich zuvor intensiv mit dem Phänomen auseinandergesetzt haben, denn erst diese kognitive Auseinandersetzung führt zum Bedürfnis, eine Teilverantwortung für das größere Ganze zu tragen. Ohne das Wissen darüber, wie Infektionsketten funktionieren, würden wir wohl nicht über das in der Pandemie angebrachte Verhalten nachdenken. Auf diesen Aufklärungsprozess folgt das aktive Engagement: Wir treffen die Entscheidung, für die Gesundheit der älteren Bevölkerung zuständig zu sein, und tragen die Konsequenzen, die sich daraus ergeben: Kontakte reduzieren, kein Sommerurlaub, sich testen lassen. Auch wenn die meisten der genannten Verhaltensweisen durch rechtliche Bestimmungen geregelt sind: Es gab im letzten Jahr viele Menschen, die ihre eigenen Bedürfnisse nach sozialer Interaktion, nach Reisen, Freizeitaktivitäten usw. aus innerer Überzeugung einschränkten. Mehr als jemals zuvor spürten wir, dass das aktive Übernehmen von Verantwortung Verzicht auf die eigene Bedürfnisbefriedigung bedeuten kann. Doch wenn dieser Verzicht uns das Gefühl gibt, das Richtige zu tun, dann kann er Sinn in unserem Leben stiften. Nicht zuletzt erzeugt Verantwortungsübernahme ein Gefühl der Gemeinschaft, denn im Verzicht sind wir mit all jenen vereint, die sich ebenso verantwortungsvoll selbst beschränken. Ob die Idee der Verantwortung in den gegenseitigen Vorwurf oder in gemeinsame Anstrengung mündet, hängt von uns ab.
Jan Philipp Hahn studiert seit vier Jahren evangelische Theologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er arbeitet als studentische Hilfskraft am Lehrstuhl für Religionswissenschaft sowie für die Ernst-Troeltsch-Stiftungsprofessur für Religionssoziologie. In seinem Studium legt er einen Schwerpunkt auf interreligiöse und interkulturelle Fragestellungen. Neben dem Studium ist Jan Philipp Hahn seit 2020 in der Öffentlichkeitsarbeit der Guardini Stiftung aktiv.