Guardini akut | Die Passion Gottes

Guardini akut | KW 15/2020

Die Passion Gottes

Kann Gott eine Passion haben, für etwas brennen, von etwas ergriffen sein, zornig werden oder leiden? Er kann. In der Passionsgeschichte eignet sich Gott die Leidenschaft und das Leiden des Menschen an.
Von Notger Slenczka

Passion. Wenige Worte sind so widersprüchlich gefüllt wie dieses Wort ‚Passion‘. Jemand hat eine Passion, eine Leidenschaft – Fußball, Joggen, Lesen, Musik, gleich welcher Art, all das kann eine Passion sein. Damit assoziieren wir höchste Aktivität; wenn jemand, der ganz offensichtlich unsportlich ist, uns erklären würde, dass Joggen seine Passion sei, dann wäre das so belustigend wie jemand, der behauptet, ein passionierter Opernfan zu sein, aber ernsthaft glaubt, der ‚Ring‘ sei von Mozart. Wer eine Passion hat, der beschäftigt sich damit, der verbringt jede freie Minute mit dem, wofür sein Herz schlägt, der ist leidenschaftlich engagiert und dabei.

Passion. Leidenschaft. Gott hat keine Passionen – die von Platon, Aristoteles und den Stoikern geprägten Theologen der Alten Kirche und des Mittelalters denken dabei an negative Emotionen wie den Zorn oder den Hass, Trauer, Angst, aber auch an Leidenschaften wie die Liebe, Freude. Passt alles nicht zu Gott, und daher haben diese Theologen immer Schwierigkeiten, wenn sie biblische Texte auslegen, in denen sehr unmittelbar von Gottes Zorn, Gottes Eifer, Gottes Reue die Rede ist. Das liegt daran, dass sie, und zwar aus eigener Erfahrung, wissen und einen Sinn dafür bewahrt haben, dass an der Wurzel der enthusiastischen Aktivität, die Passionen auslösen, eine Nichtaktivität liegt. Lateinisch ‚passio‘ ist das Leiden, und die ‚Leiden’schaft hat eben in der Tat mit Leiden zu tun. Das ist keine etymologische Spitzfindigkeit, sondern phänomengerecht. Wer eine Passion, eine Leidenschaft hat, der ist ergriffen von etwas, der ist gerade nicht frei und kann sich mühelos und genauso gut etwas anderem zuwenden, sondern den hat etwas gepackt und er kann gar nicht anders als fiebern für einen Verein, schwärmen für einen Mann oder eine Frau, sich einsetzen für ein Ziel. Das ist alles höchste Aktivität, aber diese Aktivität entspringt einer Passivität: Das, wofür ich eine Passion entwickelt habe, hat mich ergriffen und läßt mich nicht los. Eine Passion, eine Leidenschaft verbindet höchste Aktivität und Passivität. Von Passion sprechen wir, wenn jemand ergriffen ist und gar nicht anders kann.

Daher: Gott hat keine Passionen. Gott ist nur aktiv, darin sind sich die Theologen über die Zeiten hin einig. Das ist tief in unseren Sprachspielen verankert, in dem Bedeutungshof, der das Wort ‚Gott‘ in unserer Sprache umgibt und unser Reden als eingewachsene Konvention leitet. Natürlich sprechen wir irgendwie auch von Passionen Gottes, reden von seinem Zorn oder seiner Güte oder seiner rettenden Hand, oder bitten um sein Erbarmen. Aber wenn wir gefragt werden, ob wir das ernst meinen – Gott zürnt? Gott reut etwas? Gott freut sich? –, dann wissen wir sofort, was gemeint ist: Das lässt die Sprache nicht zu, das ist, als ob jemand einem Schimmel ein schwarzes Fell zuschreiben wollte, und wir suchen sofort mehr oder weniger gelenke Erklärungen für unsere Redeweise. Wir wissen, dass es ‚eigentlich‘ nicht so ist.

Passion. Die Passion Christi bestimmt diese Wochen zwischen Aschermittwoch und Karsamstag. Die Passion Christi ist nun in der Tat Leiden – ihm wird etwas angetan. Und Jesus Christus ist ‚passioniert‘ – ergriffen von den Menschen, die ihm begegnen, die marginalisiert sind, die ihn ergreifen und für die er sich einsetzt. Die Christenheit vollzieht in diesen Wochen den leidenschaftlichen Weg Jesu zum Kreuz nach – nun aber nicht als ein menschliches Leiden, sondern als ein Ereignis, das die Sprache verändert. Das klingt abstrakt, zuerst einmal. Aber es besagt: Dieses Leiden des Menschen Jesus von Nazareth – von der Todesangst im Garten Gethsemane über die Schläge bei den verschiedenen Verhören bis hin zum Tod am Kreuz – dieses Leiden und die Leidenschaft, die sein Leben begleiten, die Liebe zu den Outlaws der Gesellschaft, der Zorn über Ungerechtigkeit, diese Passion und diese Leidenschaft erfassen und bewegen nicht einfach einen Menschen. Das wäre nichts Besonderes. Sondern dieses Leiden und diese Leidenschaft Jesu schreibt die Christenheit Gott selbst zu. In diesem Leben ist Gott gegenwärtig und definiert sich Gott. Das bedeutet, dass Gott sich durch diesen Menschen das Leiden und die Leidenschaft des Menschen aneignet. Alles, was wir in den Evangelien als Zuwendung, Liebe, Erlösung, Befreiung, Leiden, Kreuz und Tod lesen, das Tun und die Eigenschaften dieses Menschen Jesus von Nazareth sind zugleich das Tun Gottes. In der Rede über diesen Menschen verändert sich das Wort ‚Gott‘, und wir sagen: Hier liebt Gott. Hier wendet sich Gott zu. Hier leidet Gott. Hier stirbt Gott. Wie Johann Rist dichtet: „O große Not, Gotts Sohn liegt tot.“

Und das bedeutet umgekehrt, dass auch wir in unserem Leiden, Kreuz und Tod nicht mehr allein sind, sondern dass dieses, unser Leiden und Kreuz zu Gott gehört. Dass Gott im Leiden und Kreuz ist und das Leiden und Kreuz aneignet aus leidenschaftlicher Liebe zum Leben des Menschen – das kommt im Lebensweg Jesu zur Darstellung: von der Zuwendung zum Kranken, Sterbenden, Verlassenen bis dahin, dass der Tod nicht das letzte Wort ist. Wir Christen reden nicht nur neu über Gott, sondern weil wir neu über Gott und sein Leiden, seine Passion reden, reden wir auch neu vom Menschen und vom Tod: dass er nicht das Ende der Wege des Menschen ist. Passion bedeutet: Das Leiden des Menschen und die Leidenschaft des Menschen wird von Gott ausgesagt und gehört zu Gott. Gott erwartet uns im Tod. Und Gott liebt.


Notger Slenczka, Professor für Systematische Theologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Durch den Fortfall von Vortragsverpflichtungen entschleunigt. Als Universitätsprediger in der selbstgewählten Pflicht, in der Karwoche von Tag zu Tag Passionsandachten als Audiodatei ins Netz zu stellen. Als Familienmensch in neuer Verbindungsintensität mit Angehörigen und Freunden. Als Bürger in sehr großer Sorge, dass sich durch Corona unsere Maßstäbe für das Wichtige verschieben – das Flüchtlingselend und die bürgerlichen Rechte scheinen nicht mehr so dringlich zu sein.

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