Guardini Akut | Die Himmel

Guardini Akut | KW 46/2020

Die Himmel

Der Himmel kann als Begriff und nicht nur als Metapher ernst genommen werden. Sein Begriff besteht darin, die Zentrierung des Menschen auf sich selbst zu überwinden.
Von Johann Hafner

Rede vom Himmel halten wir gerne für eine Restmythologie antiker und biblischer Vorstellungen. Er wird allenfalls als Requisite für Gottesglauben gesehen, der auch ohne ‚Himmel‘ auskommen könne. Wer heute vom Himmel spricht, tut dies meist im Modus des Zitats: Geschichte des Himmels, Bilder des Himmels, Himmel auf Erden, der Himmel in uns – Bücher heißen gerne so.

Lange bevor es zum Begriff eines einzigen und allmächtigen Gottes gekommen war, glaubten Kulturen an eine jenseitige Welt. Der Himmel ist sozusagen älter als Gott. Die Formen waren sehr verschieden: ein Geisterreich, in dem die Ahnen leben; das Elysium bzw. der Hades, in dem Helden bzw. Feiglinge existieren; ein unzugänglicher Hain, in dem der Schamane den Seelen begegnet; eine unversehrte Vorwelt, von Paradiesmenschen bewohnt; eine geheilte Nachwelt, worin die Geschichte ihre Ruhe findet; ein transmundaner Zustand, in den sich Mönche hinüber meditieren. Sogar humanistische Weltanschauungen setzen eine überweltliche Wirklichkeit voraus, in der die höchsten Werte fortdauern und von dort aus wirken.

Die hiesige Welt als eine unter anderen zu begreifen, ist der erste Schritt der Metaphysik und der Religion. Luhmann nennt dies „Verdoppelung“ oder „Possibilisierung“ von Welt. Sie führt dazu, dass die eigene Welt relativiert, d. h. in Relation gesetzt werden kann. Jede diesseitige Erfahrung und Handlung erhält so ihre jenseitige Entsprechung: Was hier endlich ist, ist dort un-endlich. Oder besser: Angesichts des Unendlichen erscheint das Hiesige erst endlich. Dasselbe gilt für Attribute wie zeitlich/ewig, lokal/ubiquitär, einzeln/universal, selbst/selbstlos, getrieben/ruhend usw. Die zweite Welt ermöglicht es den Bewohnern des Diesseits, von außen (je nach Metaphorik: von oben, im Rückblick, mit Möglichkeitssinn) auf dieses zu blicken und sie als Gesamtheit zu bewerten. Und dazu muss man sie übersteigen. Erst sub specie aeternitatis – oder besser: sub specie caelorum – können wir sagen, was die Welt eigentlich ist. Dieser Beobachterstandpunkt heißt in den biblischen Religionen ‚Himmel‘.* Solange man sich in der Welt befindet, kann man – weil man Teil von ihr ist – nur Um-welt sehen, nicht aber die Welt im Ganzen.

Das Ganze ist aber nicht alles. Die scheinbare Totalität ‚Welt‘ wird angesichts einer zweiten Welt zu einer kontingenten Größe. Ist der Gedanke, dass es eine zweite Welt geben könnte, erst einmal gefasst, steht nichts mehr im Wege, neben der irdischen, eine überirdische, eine über-überirdische usw. Welt anzunehmen. Die Mehrweltenvorstellung findet sich bereits bei Epikur, jedoch hat das Verdikt Platons (vgl. Timaios) und Aristoteles (vgl. De caelo), wonach es nur eine Welt geben könne, diesen Gedanken über Jahrhunderte unterdrückt. Erst im Hochmittelalter kam er wieder auf. Auslöser war 1277 eine lehramtliche Verurteilung durch den Pariser Bischof, dass man nicht behaupten dürfe, Gott könne nicht mehrere Welten erschaffen. Selbst wenn es nur die hiesige gäbe, müsse Gott die Fähigkeit zugeschrieben werden, andere schaffen zu können. Nun verlor die irdische Welt ihre Selbstverständlichkeit und konnte als anders-möglich gedacht werden.

Und nun konnte zum Zuge kommen, was sprachlich bereits vorgebahnt war: Der Himmel war immer ein Plural. Das Hebräische kennt ‚Himmel‘ ausschließlich in der Mehrzahl. Weil aber die Septuaginta, die griechische Bibel, den Begriff aus unerfindlichen Gründen manchmal im Singular (z. B. epoiêsen ton ouranon kai tên gên „schuf den Himmel und die Erde“ Gen 1,1) und manchmal im Plural (z. B. aineite ton kyrion ek tôn ouranôn „Lobt den Herrn von den Himmeln her“ Ps 148,1) wiedergibt, schwanken die Übersetzungen in andere Sprachen zwischen ‚der Himmel‘ und ‚die Himmel‘. Christen beten „Vater unser im Himmel“, obwohl es eigentlich „in den Himmeln“ (en tois ouranois) heißen müsste. Ist das nur eine grammatische Spitzfindigkeit?

Nein, solange es nur einen Himmel gibt, ist er nur der direkte Gegensatz zur Erde. Er kann zu leicht als Projektion von irdischen Wünschen entlarvt werden. ‚Was hier unten mühsam ist, wird da droben mühelos sein.‘ ‚Wenn ich hier unten leide, werde ich dort oben genießen.‘ Reflexe Religionen waren sich stets bewusst, dass sie unter dem Verdacht stehen, eine Funktion der Bedürfniserfüllung zu sein. Religion ist aber viel mehr. Sie antwortet auf das Bedürfnis nach dem Bedürfnisunabhängigen. Daher braucht es mehr als einen Himmel. Nur mit einer Mehrzahl an Himmeln gelingt es, alle irdischen Bedürfnisse zu überbieten. Der erste Himmel ist die Antwort auf die menschlichen Fragen und Taten. Daher findet bei den antiken Himmelmodellen des Christentums und des Judentums (vgl. 2Kor, TestLevi, 2Hen, kopstApkPaul, AscJes) in den unteren Sphären die Bestrafung oder Belohnung der Menschen statt. Erst in den oberen Sphären tritt die Bedürfnisstruktur des Menschen in den Hintergrund. Dort wird Gott gelobt, die Menschen sind nunmehr nur noch Teil eines Geschehens, das hauptsächlich von nicht-menschlichen Wesen wie Cheruben, Hayyot, Engeln und Seraphen vollzogen wird. Je höher der Himmel, desto mehr wird die Anthropozentrik aufgebrochen.


* In der Religionsgeschichte wurde der sichtbare Himmel (hebr. raqiya?/griech. stereôma/lat. firmamentum), der auf seiner Unterseite noch Teil des Diesseits und auf seiner Oberseite bereits Teil des Jenseits ist, stets von den Himmeln darüber (shammayim/ouranois/caela) unterschieden. Zwar verfügt auch das Deutsche über zwei Begriffe (Firmament und Himmel), aber meist wird ‚Himmel‘ für beides verwendet. Das Englische macht den Unterschied mit sky und heaven deutlicher.


Prof. Dr. Johann Hafner ist seit 2004 Professor für Religionswissenschaft an der Universität Potsdam. Er studierte Theologie und Philosophie in Augsburg, München und Vigan (Philippinen). Nach seiner Promotion 1995 in Philosophie habilitierte er sich im Fach Systematische Theologie an der Universität Augsburg. 1996 und 2016 lehrte und forschte er für je ein Jahr in den USA (Dayton, USC Los Angeles) sowie in Bangalore (Indien) und Erbil (Kurdistan). 2010–2015 war er Dekan der Philosophischen Fakultät Potsdam. Zu seinen Forschungsgebieten zählen: Umweltethik, revolutionäres Christentum, Engel und Zwischenwesen, Systemtheorie der Religion, Kartierung von Religionsgemeinschaften und Mehrwelten-Theorien. Johann Hafner ist nebenberuflich als katholischer Diakon tätig.

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