Guardini akut | KW 18/2021
Die Balken in unser aller Augen
Erkennt man einen Rassisten wirklich daran, dass er seine eigenen Privilegien nicht reflektiert? Die hitzige Debatte um Gleichstellung macht nachdenklich.
Von Sebastian Maly SJ
Die Coronapandemie ist mit Sicherheit keine debattenarme Zeit – auch abgesehen von den Diskussionen um die Angemessenheit der Coronamaßnahmen. Die Debatte, die mich besonders nachdenklich macht, hängt mit dem Mord an dem Afroamerikaner George Floyd in Minneapolis (USA) durch einen weißen Polizisten im März 2020 zusammen. Der Mord hat eine auch in unserer deutschen Gesellschaft wichtige Diskussion befeuert: Wie steht es um eine wirkliche Gleichstellung aller hier lebenden Menschen, egal welcher Herkunft, Hautfarbe, Religion, sexueller Orientierung oder welchen Geschlechts sie sind? Der Artikel 3 unseres Grundgesetzes sowie das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz aus dem Jahr 2006 garantieren zwar die Gleichstellung aller vor dem Gesetz. Dennoch sind wir – wenn man den Berichten von diskriminierten Minderheiten zuhört – von einer wirklich pluralen Gesellschaft noch weit entfernt. In einer solchen pluralen Gesellschaft sollte Gleichstellung nicht nur rechtlich garantiert, sondern auch kulturell gelebt werden.
Um den Weg zu einer kulturell pluralen Gesellschaft ist im linken und liberalen intellektuellen Spektrum ein erbitterter Streit entbrannt. Dabei geht es nicht nur um Fragen konkreter Politik, sondern auch um Wissenschafts-, Presse- oder Kunstfreiheit. Die moralischen Geschütze, die dabei aufgefahren werden, sind von größerer Art. Einige werfen (zum Beispiel mit Verweis auf die US-amerikanische Soziologin Robin DiAngelo) pauschal allen Weißen vor, sie seien Rassisten, weil Rassismus keine Frage bestimmter Überzeugungen, sondern eine von Strukturen und Privilegien sei, derer man sich bewusst werden müsse. Andere wiederum sehen die „Cancel Culture“ und das Abstempeln unliebsamer Meinungen als „eine Form von Auschwitz“, so jüngst der Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg – ein mit Sicherheit problematischer Vergleich.
Das Augenmaß scheint in dieser Debatte vielen abhandengekommen zu sein. Schnell wird moralisch verurteilt, gebrandmarkt und schnell steht man auf der falschen Seite. Das macht mich nachdenklich. Denn ich kann einerseits die Wut von Benachteiligten und Diskriminierten darüber nachvollziehen, dass sie keine Gleichbehandlung erleben und sich die gesellschaftlichen Verhältnisse so langsam oder gar nicht verändern. Doch mir den Schuh anziehen, dass ich nur aufgrund meines Weißseins und noch anderer Merkmale, die mich als einen in mehrfacher Hinsicht privilegierten Menschen dastehen lassen, ein Rassist sein sollte – das mache ich nicht. Und noch weniger kann ich akzeptieren, dass genau diese Weigerung (DiAngelo nennt es „white fragility“) bereits ein Ausdruck meines Rassismus sein soll. Der Verblendungszusammenhang, der von DiAngelo und anderen konstruiert wird, ist wie eine neue Art von Erbsünde. Das entmutigt eher, als dass es zum Handeln motiviert.
Mit Erbsünde kenne ich mich als christlicher Theologe aus. Nach christlicher Vorstellung sind wir durch Jesu Leben, Sterben und Auferstehung von ihr befreit. Oder weniger traditionell formuliert: Jesus hat gezeigt, dass nichts den Menschen von Gottes Liebe trennen kann. Deswegen sollten auch wir Menschen aufmerksam sein, auf welche hohen moralischen Rösser wir uns setzen, von denen aus wir andere verurteilen. Ein passendes Bild dafür finde ich im Matthäus-Evangelium: „Was siehst du den Splitter im Auge deines Mitmenschen, den Balken in deinem eigenen Auge aber siehst du nicht?“ (nach Mt 7,1-5). Den Anfang macht die Selbsterkenntnis, in meinem Fall vielleicht das Erkennen der blinden Flecken mit Blick auf diskriminierende Überzeugungen und Verhaltensweisen oder eigene Privilegien. Andere mögen ihre eigenen Verblendungen haben. Wer bei sich angefangen hat, kann dann dem Gegenüber helfen, den Splitter aus seinem oder ihrem Auge zu ziehen. Alle sind in derselben nicht-privilegierten Position, moralisch unvollkommene Menschen zu sein. Daraus lässt sich gewiss kein politisches Programm ableiten. Vielleicht motiviert diese Optik am Ende aber zu gemeinsamer politischer Aktion für eine plurale Gesellschaft: weil ich im Anderen, unabhängig von jeglichen Merkmalen, meinen Knick in der Linse wiedererkenne.
Dr. Sebastian Maly SJ ist Jesuit und arbeitet seit 2017 als Schulseelsorger am Canisius-Kolleg in Berlin. Nach seinen Studien in Philosophie und Theologie wurde er in Philosophie promoviert. Er ist ausgebildeter systemischer Therapeut und Familientherapeut (DGSF) und engagiert sich in der Exerzitienbegleitung.